Süddeutsche Zeitung

Mitten in München:Durchblick im Untergrund

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Ein findiger Geist muss nur den Münchner Untergrund beobachten, um zu erkennen, was sich über der Erde abspielt.

Von Berthold Neff

So schlimm wie in diesem Jahr war es in der Stadt schon lange nicht mehr. Baustellen allenthalben, sodass oberirdisch kaum noch ein Durchkommen ist. Allenfalls Radler finden noch ein Schlupfloch. Die Autofahrer sind natürlich am schlimmsten dran. Die Ärmsten stehen stundenlang im Stau und können von Glück reden, dass die Hitzewelle der vergangenen Tage noch einigermaßen glimpflich zu Ende gegangen ist. Ein paar heiße Tage noch, und schon wären die Blechschlangen im aufgeweichten Asphalt auf immer und ewig stecken geblieben. Selbst der stärkste SUV hätte aus dieser schwarzen, stinkenden Hölle keinen Ausweg mehr gefunden.

Glücklicherweise haben unsere Stadtväter schon früh geahnt, dass es dereinst im Land der Autobauer einen solchen mobilen Stillstand geben würde. Deshalb haben sie uns im Untergrund neue Chancen aufs Fortkommen eröffnet. Seit dem 19. Oktober 1971, als die Linie U 6 den Betrieb aufnahm, ist es möglich, unter der Stadt hindurch zu brausen und dennoch über das Geschehen an der Oberfläche Bescheid zu wissen.

Schon damals, in einer Zeit also, als es dort weder Handy-Empfang noch Fahrgastfernsehen gab, von Smartphones ganz zu schweigen, konnte man als findiger Geist ziemlich gut erkennen, was sich oberirdisch abspielte. Es genügte, die Menschen in den Zügen genau zu betrachten. Waren sie in größerer Zahl betrunken, konnte das im Herbst nur bedeuten, dass die Wiesn begonnen hatte.

Im Frühjahr waren fahle Gesichter und die entsprechende Ausdünstung ein klares Signal darauf, dass die Starkbier-Saison die Sinne benebelte. Traten die sichtlich angeheiterten Menschen jedoch nicht massenweise in Trachten gehüllt auf, sondern im Fußballdress, dann war klar, dass die Bayern oder die Löwen spielten. Später, bei ihrer Rückfahrt aus dem Stadion, sagten ihre Gesichter alles über Sieg oder Niederlage.

Inzwischen ist es noch einfacher, von unten her alles über das Leben dort oben zu erfahren. Es genügt ein Blick auf das Smartphone des Nachbarn. Da hat jemand gerade ein Staufoto gepostet. Sieht nach Sonnenstraße aus.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2016
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