Mitten in der Au:Alles Hygge

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Auf Baumstämmen frühstücken, Störfaktoren ausblenden - dem Geheimrezept skandinavischer Glückseligkeit lässt sich mitunter auch in einem Münchner Café nachspüren

Von Fabian Huber

Ein skandinavisches Café in der Lilienstraße. Das Müsli ist hausgemacht, der Kaffee hausgemischt. Ein junges Pärchen teilt sich die Ecke des Außenbereichs mit einer Italienerin, ihrer Nonna und deren Hund. Wer will, kann sich mit herzhaften Waffeln verwöhnen lassen oder einen Wochenvorrat isländisches Craftbeer einsacken. Man isst von Baumstämmen und liest die präferierte Wochenzeitung, da fragt der Gast vom Nebentisch: "Könnte ich 'nen Teil Ihrer Zeitung haben?" Kann er. Es tut gut, Gutes zu tun, schließlich liest heutzutage gefühlt kaum jemand mehr gedruckten Journalismus. "Klar, was interessiert Sie denn?" - "Wirtschaft."

Genau so muss sich dieses Hygge anfühlen, um das die ganze Welt das kleine Dänemark beneidet. Übersetzt kann das heißen "Kunst der Innigkeit", "Abwesenheit jeglicher Störfaktoren" oder auch "Kakao im Kerzenschein", gemeint ist das Geheimrezept skandinavischer Glückseligkeit. Jedes Medium, das etwas auf sich hält, schickte in den vergangenen Jahren mindestens einen Reporter nach Kopenhagen, um herauszufinden, wie man sich sein Leben schön hyggelig - ein ganz hervorragender Danismus - einrichtet. Es gibt Bücher mit den Titeln "Hygge - ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht" oder "How to Hygge".

Der freundliche Zeitungsspendenempfänger jedenfalls überfliegt lässig den Wirtschaftsteil - Vermögensverteilung, Strukturwandel in Duisburg, Geldwäsche - bleibt dann aber ausgerechnet bei einem Interview mit Günther Oettinger hängen. Dem EU-Haushaltskommissar haftet ja qua Geburt im schwäbischen Stuttgart ohnehin schon wenig Hygge an. Die "Anwesenheit von Störfaktoren" wie die Wahlwatschn, die seine Union jüngst bei der Europawahl kassierte, oder sein baldiger Rückzug aus der Politik dürften seine Verkrampftheit aber nochmals verstärkt haben, was er in besagtem Interview auch nicht überspielen kann: "Es wäre falsch, nur dem Zeitgeist zu folgen", sagt er da. Das mag bei Smart-Homes oder blauen Haaren vielleicht zutreffen, ist im Fall eines Hygge-Frühstücks wie in der Lilienstraße aber natürlich (h)ausgemachter Quark.

© SZ vom 14.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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