Mit Stift und Pinsel:Das Leben gezeichnet

Die "Urban Sketchers Munich" treffen sich an verschiedenen Orten, um ihre Stadt zu malen. Mitmachen darf jeder, der Lust hat - und sich an die Regeln des Manifests der internationalen Bewegung hält: Dinge erfinden oder weglassen ist tabu

Von Henrik Oerding

Es ist einer der ersten sonnigen Tage in diesem Jahr, als zwischen den Gräbern des Alten Südfriedhofs in München mehr als 30 Künstler bewaffnet mit Zeichenblock und Campinghocker umherziehen. Auch vorbei am Grab von Carl Spitzweg. Der große Zeichner aus Germering widmete sein Leben trotz seines Pharmaziestudiums der Kunst, mit spitzer Feder malte er etwa den "armen Poeten" oder den "Bücherwurm". An diesem Apriltag zeichnen hier professionelle Maler, aber auch Rechtsanwälte oder Physiker, die Autodidakten wie Spitzweg sind. Sie gehören zu den Münchner "Urban Sketchers". Die Gruppe trifft sich einmal im Monat an verschiedenen Plätzen der Stadt zum "Sketchcrawl", zuletzt etwa am Königsplatz oder im Stadtmuseum. Ihr Name kommt vom englischen "Sketching" für Skizzieren.

"Bei Urban Sketching geht es darum, seine Umgebung so zu zeichnen, wie man sie sieht", erklärt Miriam Benmoussa. "Vor allem lässt man nichts weg, unschöne Dinge werden auch mit gezeichnet. Das macht die Zeichnung interessanter", ergänzt Jutta Richter. Die beiden Frauen organisieren die Münchner Gruppe, die es seit etwa zwei Jahren gibt. Die meisten Mitglieder sind mittleren Alters, aber auch Rentner und ein siebenjähriger Junge sind dabei. Die Urban Sketchers sind eine weltweite Bewegung, die ihren Anfang 2007 in Seattle nahm. Der Journalist und Illustrator Gabriel Campanario gründete ein Online-Forum für Zeichner, die wie er die Welt realitätsnah abbilden wollten - eine Art gezeichneter Journalismus. Schnell wuchs die Community, ein Blog wurde gegründet und ein Manifest verfasst. Dieses Glaubensbekenntnis der Urban Sketchers hält in acht Punkten den gemeinsamen Geist fest.

"Erstens: Wir zeichnen vor Ort, drinnen oder draußen, nach direkter Beobachtung. Zweitens: Unsere Zeichnungen erzählen die Geschichte unserer Umgebung, der Orte, an denen wir leben oder zu denen wir reisen." Nach und nach trudeln an diesem Sonntagnachmittag die Künstler ein, man begrüßt sich herzlich, die bekannten Gesichter, viele sind bereits seit der Gründung dabei, aber auch neue Leute wie Frank Ramspott. Er ist Grafikdesigner, zeichnet also auch viel beruflich. Das Urban Sketching empfindet er als Ausgleich und Übung: "Es ist sehr entspannend, wenn man weiß, man hat keinen Auftraggeber und keinen Druck. Natürlich hilft es auch, die Technik zu verbessern und Routine zu bekommen." Er malt einen Sketcher, der ihm gegenüber sitzt. Schnell ist die Zeichnung fertig, mit wenigen Handgriffen auch koloriert. Drei bis vier solcher Skizzen erschaffen viele der Künstler bei dem zweieinhalbstündigen Treffen.

"Drittens: Unsere Zeichnungen sind eine Aufzeichnung der Zeit und des Ortes. Viertens: Wir bezeugen unsere Umwelt wahrhaftig." Die Regeln des Manifestes klingen streng, gerade die Abgrenzung zum Stillleben ist den Sketchers aber sehr wichtig: Nicht die Kaffeetasse, sondern der gedeckte Tisch mit Leuten drumherum, nicht das Porträt, sondern der Mensch in seiner Umgebung, nicht das abgezeichnete Foto, sondern die Skizze vor Ort. Die Urban Sketchers empfinden das Manifest nicht als Einschränkung: "Es bringt einem eher einen anderen Blick auf Situationen ein. So kann aus einem alten Radl eine tolle Szene werden", erklärt Gabi Heininger, die seit etwa einem halben Jahr dabei ist. Sie genießt es, draußen zu sein und ohne elitäre Kunstkritik malen zu können: "Eine Insel in der Ellbogen-Gesellschaft!"

"Fünftens: Wir benutzen alle Arten von Medien. Sechstens: Wir unterstützen einander und zeichnen zusammen." Nörgler könnten einwenden, Urban Sketching sei nur ein hipper Name für das Zeichnen im Skizzenbuch, das ambitionierte Maler schon seit eh und je nutzen. Der wesentliche Unterschied ist aber die Gruppendynamik, die der Bewegung innewohnt. Urban Sketching holt Hobby und Profi-Künstler aus den Stuben und Ateliers heraus. Deswegen freuen sich auch alle auf den Austausch am Ende jedes Sketchcrawls, bei dem die Zeichnungen bewundert und - ganz wichtig - mit dem Logo der Urban Sketchers gestempelt werden. Bis vor wenigen Monaten ging man dann noch gemeinsam in ein Café, inzwischen findet sich aber keines mehr, in das die vielen Kunstbegeisterten hineinpassen.

"Siebtens: Wir veröffentlichen unsere Zeichnungen online." Die Zeichnungen verschwinden danach nicht in den heimischen Schränken. Urban Sketching hat im Internet begonnen und immer noch wäre die Bewegung offline kaum vorstellbar. Auf Blogs veröffentlichen die Künstler, die in der Szene besonders angesehen sind, ihre Werke. Sie erläutern die Zeichnungen und berichten von deren Entstehung. Über die angeschlossene Facebook-Seite erfahren viele Zeichner aus dem Umland erstmals von den Urban Sketchers, 200 Menschen sind in der Münchner Gruppe organisiert. Damit hat München eine der aktivsten Sketcher-Gruppen in Deutschland - Grund genug, im September das zweite Treffen der deutschen Community hier in der Stadt zu veranstalten. In der Seidlvilla sollen deutsche und internationale Künstler zusammenkommen, um ein Wochenende lang gemeinsam zu "sketchen".

Aber auch weltweit kommen die Urban Sketchers zusammen: Bereits zum siebten Mal findet 2016 das internationale Symposium statt, in diesem Jahr in Manchester. Einige der Münchner Künstler fahren dort hin, Reisen und Zeichnen ergibt für sie eine perfekte Kombination: "Es ist wie Tagebuch führen, so ein Skizzenbuch erzählt seine eigene Geschichte: wo man gewesen ist und was einen beeindruckt hat", erzählt Miriam Benmoussa als sie durch ihre jüngsten Zeichnungen blättert. Für die Zukunft muss es aber nicht beim individuellen Tagebuch bleiben, auch Ausstellungen können sich die Organisatorinnen vorstellen. Auf diese Weise könnten sie ihre Werke an die Öffentlichkeit tragen, die sie abbilden wollen: "Achtens: Wir zeigen die Welt, Zeichnung für Zeichnung." So weisen die Urban Sketchers auf Dinge hin, die man im Alltagstrubel oft übersieht. Genau wie Carl Spitzweg.

Die Urban Sketchers treffen sich an jedem ersten Sonntag im Monat. Informationen und Zeichnungen unter urbansketchersmunich.blogspot.de

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