Mit kreativen Beiträgen von München bis Kiew:Menschen des Maidan

Die Ausstellung "Ukraine: Learning from a good neighbour 1918 - 2018" zeigt in der Pasinger Fabrik die lebendige Kunstszene eines traumatisierten Landes, das beharrlich um seine Identität ringt

Von Jutta Czeguhn

Vitali Klitschko lässt aufräumen, demonstrativ streift sich der Kiewer Bürgermeister die Arbeitshandschuhe über und packt selbst mit an. Auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, sollen die Spuren der "Revolution der Würde" verschwinden; die Zeltstadt, die Barrikaden, die Pflastersteine und die Kanonenöfen, die den Winter über rußig rauchten. Der Ex-Boxweltmeister bahnt sich den Weg durch eine aufgebrachte Menge. Die Kamera wackelt. Die Bilder stammen vom Juni 2014. "When did Maidan end?" heißt das Video von Piotr Armianovski, das in einem der Galerieräume der Pasinger Fabrik flackert. Auf elf Minuten hat der ukrainische Performancekünstler Archiv-Aufnahmen zusammengeschnitten. Er selbst war damals Aktivist auf dem Maidan.

Stefan-Maria Mittendorf kam im Mai 2014 zum ersten Mal nach Kiew, Münchens Partnerstadt. Bis dahin, sagt er, sei er einer jener "medialen Zaungäste" gewesen, fasziniert vom Pathos dieser Revolution und der Idee einer globalen freien Welt. Der Münchner Kurator für moderne Kunst wollte mehr erfahren über die Menschen dort, über ihr Lebensgefühl. Vor allem interessierte ihn, wie sich diese massiven Eruptionen in der ukrainischen Gegenwartskunst widerspiegelten. Er kam in eine Millionenstadt, die weit entfernt war von irgendeiner Normalität, er sah friedlich Protestierende und schwer bewaffnete Paramilitärs. "Ich fühlte eine Ohnmacht an diesem hybriden Ort der Revolution", erzählt er. Mit einem diffusen Bild der Ukraine kehrte er nach München zurück. Losgelassen hat ihn die Ukraine nicht.

Im Jahr 2018 ist Mittendorf noch einmal nach Kiew gereist, diesmal um seine Ausstellung "Ukraine: Learning from a good neighbour 1918 - 2018" vorzubereiten. Er lernte den Künstler Nikita Kadan kennen, der ihm viele Türen zu Ateliers und Galerien öffnete. Für Mittendorf sind Künstler "Seismografen" gesellschaftlicher Veränderungen - was konkret er damit meint, ist nun in der Pasinger Fabrik zu sehen. Die Schau macht neugierig auf ein Land, das um seine Identität ringt, das trotz all seiner postsowjetischen Probleme, der Korruption und dem Krieg im Osten mit Kiew eine kulturell elektrisierende Metropole vorweisen kann. Eine House- und Techno-Kapitale, ein Zentrum queerer und feministischer Diskurse, in steter Auseinandersetzung mit der Zensur. Osteuropäische Städte wie Riga oder Bukarest werden gerne als "das neue Berlin" gehandelt. Für den Kurator ist Kiew einer dieser Hotspots. Die Ukraine - hier verbindet er die Motti der Documenta 14 und der Istanbul Biennale 2018 - ist für ihn ein guter Nachbar, von dem West-/Resteuropa einiges zu lernen hat.

Nachbarschaft als soziales Phänomen setzt immer mindestens ein Gegenüber voraus, einen Dialog, weshalb der Kurator neben ukrainischen auch deutsche Künstler eingeladen hat. Innen- und Außensicht gehören zum spannenden Konzept der Schau. So empfangen die Münchnerinnen Naomi Lawrence und Patricia Scherer am Galerie-Eingang mit ihrer Installation "Greetings from the revolution: Activist or artist?". Eine Vorgarten-Schlacht mit massakrierten Gartenzwergen ist da zu sehen. Von den Besuchern wird Gefolgschaft einfordert, zu wählen haben sie zwischen der deutschen Wildsau Hermann (Aktivist) und der Henne Olga (Artist). Für Maria Kulikovska, Jahrgang 1988, gelten zweifellos beide Attribute; die Künstlerin und Architektin war unter den Maidan-Teilnehmern, sie ist auch Mitbegründerin der feministischen Organisation "Body and borders". Kulikovska stammt aus Kertsch auf der Krim, wohin sie wegen der Okkupation nicht zurückkehren kann, was sie immer wieder verzweifeln lässt. Seit sie eine Frau geheiratet hat, steht Kulikovska dort auf einer schwarzen Liste der homophoben pro-russischen Krim-Verwaltung. Die Künstlerin zeigt in der Schau die Wandinstallation "My beautiful wife?", zwölf Keramik-Teller, bemalt mit versehrten, blutenden Frauenkörpern.

Es fehlen ihnen Hände, Arme oder Unterschenkel: Im Sommer 2014 war der Fotograf Alexsander Chekmenev in einem Kiewer Militärhospital unterwegs. Die Soldaten, deren Vertrauen er dort gewann, wurden alle in Kämpfen gegen pro-russische Separatisten im Osten der Ukraine verwundet. Wie schon bei seinen Fotoreportagen über Kohlearbeiter im Donbass oder über Obdachlose in seiner Heimatregion Luhansk spricht große Sensibilität aus diesen pathosfreien Porträts der Serie "War-Torn". Mit seiner direkten Fotografie stellt Chekmenev nicht die Männer, sondern den Wahnsinn des Krieges, jedes Krieges, aus. Der Fotograf hatte die Bilder versteigern lassen, 400 000 Dollar waren so für die Behandlungskosten und Versorgung der Soldaten zusammengekommen.

Eine Art Kartograf des aktuellen Ukraine-Konflikts ist Yuri Solomko, 1962 auf der Krim geboren. Die geografische Lage, ist er überzeugt, entscheide das historische und kulturelle Schicksal eines Landes. Die Ukraine sieht Solomko als "Schlachtfeld zwischen Asien und Europa", aber auch als exemplarischen Schauplatz für Dialog. Nur konsequent, dass der Künstler vorzugsweise mit Landkarten arbeitet, die er bemalt, zu Objekten verfremdet, wie etwa zu jenen klobigen Soldatenstiefeln, die in der Fabrik zu sehen sind. Zwischen zwei Ländern, Kulturen bewegt sich Kirill Golovchenko. Der 44-jährige Fotograf aus Odessa lebt seit 22 Jahren in Deutschland. In der Ausstellung ist er mit zwei Serien vertreten. Zum einen zeigt er Schattenmenschen im Rotlicht schummriger Wechselstuben, zum anderen die sommersatte Gemächlichkeit von Melonenverkäufern längs einer Touristenpassage zum Schwarzen Meer, was der Utopie von friedlicher Normalität ganz nahe kommt.

Maria Kulikovska , Installation "My Beautiful Wife?"

Sehnsucht nach der Krim: die Künstlerin Maria Kulikovska.

(Foto: Stephan Rumpf)

Der Maidan lehre, schreibt der Filmer Piotr Armianovski im exzellenten Ausstellungskatalog, dass ein Ozean mit ein paar Wassertropfen beginne. Eine Hoffnung, die den Kurator und seine Künstler-Gäste eint. Auch wenn es am Tag der Vernissage kaum Anlass dazu gab: 20 Menschen wurden bei einem Amoklauf in Kertsch auf der Krim getötet. "In der Berufsschule, in der meine Mutter war, als sie mit mir schwanger war", sagt Maria Kulikovska und wendet ihren Blick zu Boden.

"Ukraine: Learning from a good neighbour 1918 - 2018", Pasinger Fabrik, bis 18. November, Dienstag bis Sonntag, 14 bis 20 Uhr, umfangreiches Rahmenprogramm. Infos unter www.pasinger-fabrik.com.

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