Minderjährige Flüchtlinge:Jung, ausländisch, traumatisiert sucht Begleiter

Minderjährige Flüchtlinge: Ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling in der Bayernkaserne in München.

Ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling in der Bayernkaserne in München.

Der Freistaat steuert um: Minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern sollen nicht mehr in die Bayernkaserne, sondern in Jugendhilfeeinrichtungen. Doch die Umstellung klappt nicht. Denn es reden viele Behörden und Verbände mit - und schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Von Bernd Kastner

Zum Beispiel Ali. Er kam Anfang des Jahres in die Bayernkaserne, aus Afghanistan. Ein halbes Jahr lang war er auf der Flucht, sie haben ihn mehrfach eingesperrt, in der Ukraine besonders schlecht behandelt, den Jugendlichen ohne Eltern. In München war er zunächst unauffällig, bis er anfing, im Flur vor sich hin zu starren. Michael Schütz erzählt seine Geschichte, und man ahnt, dass es keine schöne Geschichte ist. Schütz leitet das Team jener Betreuer der Inneren Mission, das sich in der Bayernkaserne um jugendliche Flüchtlinge kümmert. Bald wird die Unterkunft aufgelöst, bald ziehen die dort noch lebenden etwa 130 Jugendlichen in Wohngruppen um, dann erhalten sie endlich Jugendhilfe, wie es das Gesetz vorschreibt.

Für die bayerische Asylpolitik ist das ein grundlegender Systemwechsel. Hunderte junger Menschen, alle verunsichert, viele traumatisiert, müssen fortan intensiver betreut werden, und das in kleinen Gruppen. Im August hat die Staatsregierung das Ziel verkündet, zum Jahreswechsel sollte es soweit sein. Jetzt strebt man Ende März an, doch Maria Kurz-Adam, die Münchner Jugendamtschefin, ist realistisch: "Ob wir das schaffen, müssen wir schauen." Immerhin: "Ich bin nicht ganz pessimistisch."

Der Jahreswechsel ist nur noch wenige Tage entfernt, und längst ist klar: Es läuft nicht rund bei der Systemumstellung. Das Hilfesystem, das jungen Menschen beistehen soll, ist selbst in der Krise. Das wird deutlich bei einem Runden Tisch in der Katholischen Stiftungsfachhochschule (KSFH), bei dem sich Spitzen aus Wohlfahrtsverbänden und Behörden mit Fachpublikum zusammensetzen. Egon Endres, dem KSFH-Präsidenten, ist diese Initiative zu verdanken, und mit jeder Wortmeldung zeigt sich, wie dringend nötig sie war.

Zum Beispiel wegen Ali, der in Wahrheit anders heißt. Seine Betreuer haben irgendwann Kontakt mit dem psychologischen Fachdienst aufgenommen, der mit zwei Psychologen 130 unbegleitete Minderjährige versorgt. Die Diagnose war eindeutig: Depression. Bald wollte Ali nicht mehr essen. Seither müssen ihn seine Betreuer zum Essen begleiten. So eine intensive Fürsorge aber, sagt Schütz, sei mit der Personalstärke seines Teams eigentlich nicht zu machen. Also haben sie Ali dem Jugendamt gemeldet.

Der Dialog der Helfenden ist dringend nötig, das betonen beim Runden Tisch alle: "Wir arbeiten nicht mehr miteinander", klagt eine Frau aus der Flüchtlingshilfe. "Es kann nur funktionieren, wenn wir endlich wieder zusammenarbeiten." Es läuft nicht rund, zu viele Institutionen sind involviert, Sozialministerium, Regierung von Oberbayern, Jugendamt, dazu große Wohlfahrtsverbände und kleinere freie Träger. Und Menschen, so ist am Rande zu hören, die sich in inniger Abneigung begegnen. Als ob die organisatorischen Schwierigkeiten bei der Systemumstellung nicht Krise genug bedeuteten.

Große Widerstände in der Bevölkerung

Die äußert sich dieser Tage, da für die Jugendlichen alles besser werden soll, darin, dass es für ein paar Dutzend deutlich schlechter geworden ist: Weil es für die Bayernkaserne, wo das Haus für die Minderjährigen bis Ende März aufgelöst sein soll, einen Aufnahmestopp gibt, leben seit Wochen junge Neuankömmlinge in der Erstaufnahmeunterkunft Baierbrunner Straße, und das ganz ohne soziale Betreuung. "Wer ist an was schuld?" Maria Kurz-Adam selbst stellt diese Frage. Statt einer Antwort sagt sie: Man solle endlich aufhören in der Szene der Flüchtlingshilfe mit den "ritualisierten Schuldvorwürfen". Jeder schiebt die Schuld dem anderen zu, heißt das wohl, dabei sind alle verantwortlich.

Auch die Münchner Bürger. SPD-Stadtrat Christian Müller spricht die teils "sehr großen Widerstände" in der Bevölkerung an, wenn bekannt wird, dass Raum für Flüchtlinge entstehen soll: "Die Münchner warten leider nicht auf diese Menschen." Aktuell ist diese Abwehrhaltung in Moosach zu besichtigen: Dort will die Innere Mission im Januar in einem frei stehenden Haus eine Wohngruppe für zehn neu ankommende Minderjährige schaffen. Die Nachbarn laufen Sturm, Ängste vor den Fremden verbreiten sich, Gerüchte. Dabei ist es fast ein kleines Wunder, dass diese WG entsteht: "Es werden uns keine Wohnungen vermietet", klagt Angela Bauer, Chefin des Jugendhilfevereins HPKJ. Viele Vermieter sagten Nein zu Flüchtlingen.

Der Plan des Sozialministeriums sieht vor, dass künftig nicht nur München, sondern auch Städte wie Nürnberg oder Augsburg Plätze für Flüchtlinge ohne Eltern anbieten. Dann dürfte sich auch in der Landeshauptstadt die Situation entspannen. 70 Inobhutnahme-Plätze strebt das Jugendamt in München an, Mitte Januar werden es erst die Hälfte sein. Wenn alles klappt. Nach drei Monaten in diesen Schutzstellen wechseln die Jugendlichen dauerhaft in andere, für sie passende Gruppen. Auch hierfür fehlen noch viele Plätze.

Derweil fragen sich die etwa 130 Jugendlichen in der Bayernkaserne, die kein Ort für traumatisierte Menschen ist: Wie weiter? Sie stehen auf einer Art Warteliste. Viele haben in den ersten Monaten hier zarte Wurzeln geschlagen in München, etwa in einer der Schulen speziell für Flüchtlinge, bei "Schlau" oder "Isus". Würde einer von ihnen in eine andere Stadt geschickt, wegen eines Wohngruppenplatzes, wäre er wieder entwurzelt. Beziehungsabbrüche sind gefährlich für diese Jugendlichen. Isus-Leiter Reza Karimitari berichtet von gereizter Stimmung unter seinen Schülern. "Die haben Angst." Angst vor einem neuen Wohnort ohne Schule, ohne Perspektive. Keine unüberlegte Verlegung, appelliert er: "Bitte schaut auf jeden Einzelfall."

Die Betreuer in der Kaserne schauen auf Ali, den Jungen aus Afghanistan, so gut es geht. Als sie, so berichtet Michael Schütz, das Jugendamt alarmierten, weil sie es nicht mehr schafften, sei von dort der Rat gekommen: Arbeitet intensiver mit Ali. Und wie? Das bleibt offen. Schütz hofft, dass Ali bald raus darf aus dieser Kaserne.

Es sind zwei Feststellungen beim Runden Tisch, die den Stand der Hilfe für jugendliche Flüchtlinge auf den Punkt bringen: "Das hätte man viel früher und besser organisieren müssen", ruft der Isus-Schulleiter dem Podium zu. Er meint die von allen ersehnte Systemumstellung: "Das hat man verschlafen!" Und Egon Endres, Initiator, Moderator und passionierter Netzwerker, schreibt Behörden und Wohlfahrtsleuten ins Stammbuch, diplomatisch, aber deutlich: "Es braucht flexible Koordination unter den Verantwortlichen. Jeder muss über den eigenen institutionellen Schatten springen."

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