Minderjährige Flüchtlinge:Endlich angekommen

Minderjährige Flüchtlinge: In der Pilgersheimer Straße werden junge Asylbewerber vom Verein HPKJ nach Jugendhilfestandard betreut.

In der Pilgersheimer Straße werden junge Asylbewerber vom Verein HPKJ nach Jugendhilfestandard betreut.

(Foto: Robert Haas)

Irrfahrten durch die Wüste, Gewalt auf der Flucht, die Eltern ermordet: Viele minderjährige Flüchtlinge sind seelisch schwer erschüttert, wenn sie in Deutschland ankommen. 40 von ihnen werden in Untergiesing in einer Wohngemeinschaft intensiv betreut. Viele andere können davon nur träumen.

Von Stefan Mühleisen

Bei einer Liebeserklärung kommt es auf die richtige Orthografie nicht an. Die Botschaft zählt. "Ich leiben dich", steht auf dem Zettel in etwas unbeholfener Schrift. Darunter ein Pfeil. Er zeigt auf das Wort "Deutschland". Etwas schüchtern steht Yasir (alle Namen von Minderjährigen geändert), 17, aus Somalia, daneben und sagt einen Satz, der ebenfalls auf dem Zettel steht: "Deutschland ist gut."

Es ist Mittagszeit in der neuen Clearingstelle des Vereins HPKJ (Heilpädagogisch-psychotherapeutische Kinder- und Jugendhilfe) für minderjährige Flüchtlinge in der Pilgersheimer Straße 42. Es ist eine Art WG, besetzt mit Psychologen, Sozialpädagogen und Dolmetschern, welche die Situation der jungen Flüchtlinge nach der Ankunft genau abklären ("Clearing"). Aus einem Radio dudelt Musik, Yasir und sein Landsmann Mursal spülen Geschirr. Nach langer und oft traumatischer Flucht - allein ohne Eltern - sind sie in der Obhut einer Einrichtung, in der sie nach Jugendhilfe-Standard betreut werden.

Yasir und Mursal zählen zu den wenigen Glücklichen, die einen solchen Platz bekommen. Der Ausbau betreuter Wohngruppen kommt in München und ganz Bayern nur zäh voran. Nachdem die seelisch schwer erschütterten Flüchtlinge bis zum Jahreswechsel in Massenunterkünften verwahrt wurden, sollen sie nun in Häusern der Jugendhilfe betreut werden. Allerdings: Die Kommunen sind mit der Zusatz-Aufgabe überfordert. Das Münchner Sozialreferat hat derzeit 1992 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und junge Volljährige bis 21 Jahre erfasst.

Intensiv-Plätze für junge Leute

Für die Minderjährigen stehen 240 Jugendhilfe-Plätze zur Verfügung, das Gros ist in Hotels, Pensionen und in der Bayernkaserne untergebracht. Das Sozialreferat betont, dass in all diesen Einrichtungen die jungen Flüchtlinge mittels "Clearing" die nötigen Hilfen bekommen. Intensiv-Plätze, wie sie der freie Träger HPKJ seit Ende Juni in der Pilgersheimer Straße eröffnet hat, gibt es in der Stadt bisher jedoch nur etwa 40.

Das liegt vor allem am angespannten Wohnungsmarkt. Lange hatte Bauer nach einem Gebäude gesucht - und fand ausgerechnet dieses Appartementhaus, dessen Generalvermieter vor einigen Monaten "üble Abzocke" vorgeworfen worden war. Die Bewohner, Armutsflüchtlinge aus EU-Ländern, mussten horrende Mieten zahlen für winzige Zimmer mit schmuddliger Ausstattung. Diese seien nun alle in Ersatzwohnungen untergebracht, heißt es.

Minderjährige Flüchtlinge: Um sich den Nachbarn vorzustellen, wurden für die jungen Flüchtlinge Flyer gedruckt, die sie verteilen.

Um sich den Nachbarn vorzustellen, wurden für die jungen Flüchtlinge Flyer gedruckt, die sie verteilen.

(Foto: Robert Haas)

Für HPKJ, die Jugendbehörde der Stadt und insgesamt 27 minderjährige Flüchtlinge ist das nun ein Glücksfall: 20 Betreuer kümmern sich im Schichtbetrieb um drei Wohngruppen auf vier Stockwerken, zehn Jugendliche leben in der Clearingstelle. 200 000 Euro hat HPKJ nach Angaben von Geschäftsführerin Angela Bauer in die Renovierung gesteckt. Die Nachfrage ist enorm. Seit der Eröffnung rufen täglich Jugendämter aus ganz Bayern an, und fragen nach freien Plätzen. "Leider voll", lautet jedes Mal Bauers Antwort.

Ein diffuses Unbehagen

Im Büro der Clearingstelle liegen dicke Ordner, Listen, Aktenmappen - darin sind die rekonstruierten Schicksale der Bewohner abgeheftet. Carina Hirz, die Teamleiterin, hat viele von ihnen weinen gesehen beim Aufnahmegespräch, als sie erzählten von ihren Eltern, die ermordet wurden, von Irrfahrten durch die Wüste, von Tod und Gewalt auf monatelanger Flucht. "Manche sind akut suizidgefährdet. Es ist notwendig, dass sich rund um die Uhr jemand um sie kümmert", sagt Hirz.

Minderjährige Flüchtlinge: Geschäftsführerin Angela Bauer notiert alles Wissenswerte und Neuigkeiten für die Jugendlichen auf einer großen Tafel.

Geschäftsführerin Angela Bauer notiert alles Wissenswerte und Neuigkeiten für die Jugendlichen auf einer großen Tafel.

(Foto: Robert Haas)

"Schutzstelle" nennen sie bei HPKJ diese Einrichtung - Akutfürsorge als Geleit in die deutsche Gesellschaft. Neben der psychologischen Betreuung begleitet das Team das Asylverfahren - und schickt seine Schützlinge 20 Stunden die Woche in einen Sprachkurs. Dazu bieten sie den Heranwachsenden etwas Unbeschwertheit nach der schweren Zeit: Sie kochen und essen zusammen, malen und musizieren, spielen Fußball, machen Ausflüge. Allerdings: Der Alltag in der Flüchtlings-WG ist harte Arbeit - für beide Seiten. "Man kann die Jugendlichen nicht einfach zusammenstecken und sagen: Die verstehen sich dann schon", sagt Angela Bauer.

Auch die Nachbar sind gefordert

Die Fluchterfahrung hat Angst und Argwohn in die jungen Menschen eingepflanzt, die Folge ist ein diffuses Unbehagen, nun in einem nahezu familiären Gefüge zu wohnen, noch dazu mit Gleichaltrigen aus anderen Kulturkreisen. "Wir sprechen die Befürchtungen offen an. Nur so lernen sie, wie sie sich integrieren können", sagt Bauer. Das gilt auch für die voll- und die teilbetreuten Wohngruppen in den Stockwerken unter der Clearingstelle. Dort leben derzeit 17 Flüchtlinge mit Altersgenossen aus München zusammen, die wegen schwieriger Familiensituation oder Suchterkrankung in Obhut der Jugendhilfe sind. Das verlangt den Bewohnern einiges ab, gibt Bauer zu. "Es ist durchaus anspruchsvoll für die Jugendlichen."

Das "Clearing" ist für die meisten nach drei Monaten abgeschlossen; in den Wohngruppen leben sie bis zu zwei Jahre. Bauer weiß: Das ist auch eine Herausforderung für die Nachbarschaft. Mit Blick auf die angespannte Stimmung rund um die Bayernkaserne hält sie eine offensive Informationspolitik für unerlässlich. HPKJ macht vor, wie das gehen kann: Der Verein ließ Handzettel drucken, auf denen sich die Clearingstelle unter dem Titel "Wir sind die neuen Nachbarn" vorstellt. Auch einen Tag der offenen Tür gab es bereits.

Ein gutes Dutzend Anwohner kam zu der Veranstaltung. Manche grüßten ihn jetzt auf der Straße, berichtet Yasir, andere schauten weg. Er zuckt mit den Schultern und hebt die Hand, spreizt die Finger. "Die Menschen sind unterschiedlich, wie die Finger an meiner Hand." Doch schon als kleiner Junge, sagt er lächelnd, habe er davon geträumt, nach Deutschland zu gehen.

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