Süddeutsche Zeitung

Milbertshofen:Hungrig nach Bildung

Die Münchner Tafel versorgt 22 000 arme Menschen mit kostenlosen Lebenssmitteln. Gleich mit mehreren Initiativen versuchen Freiwillige und Großspender, nun auch das Bedürfnis nach geistiger Nahrung zu stillen

Von Benjamin Stolz, Milbertshofen

Im beschaulichen, von roten Backsteinwänden umgebenen Innenhof der Dankeskirche schaut es an einem Donnerstagnachmittag aus wie auf einem Wochenmarkt. Unter den spitzen blauen Zeltpavillons riecht es nach frischem Obst und Gemüse, auf Bierbänken stapeln sich orange Karotten- und hellbraune Kartoffelsäcke. Die Menschen, die sich hier mit zusätzlichen Lebensmitteln für den Alltag versorgen, müssen allerdings nicht bezahlen. 185 Bedürftige allein in Milbertshofen besitzen einen Ausweis der Münchner Tafel. In der Pandemie hat die Organisation ihr gewohntes Angebot ausgebaut: Eine interne Gruppe von Freiwilligen organisiert seit Kurzem Bildungsangebote und ein Verlag spendet geistige Nahrung in Form von Kinderbüchern.

An der gewohnten Arbeitsroutine ändert das Zusatzangebot für Shauna Speck zunächst nicht viel. Sie arbeitet seit zehn Jahren ehrenamtlich bei der Münchner Tafel und koordiniert die Ausgabestellen Blumenau und Milbertshofen. "Bring me happy people", also "Bring mir glückliche Leute", steht in weißer Schrift auf ihrem grauen T-Shirt. Dabei hat die Kanadierin Verständnis dafür, dass dieser Wunsch nicht immer erfüllt werden kann. "Hinter jedem Tafelgast steckt ein Schicksal", sagt sie, während sie ihre gut 20 freiwilligen Helfer scheinbar ganz nebenbei dirigiert.

Gespendete Nahrungsmittel an die Leute zu bringen, ist eine organisatorische Herausforderung. Jede Woche verteilt die Münchner Tafel 125 Tonnen qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die etwa wegen Überproduktion oder Verpackungsfehlern nicht mehr in Supermärkten verwendet werden. Insgesamt 27 Ausgabestellen und 100 soziale Einrichtungen im Stadtgebiet kommen durch die Tafel zum Zug. Zusätzlich ist an diesem Tag hinter den Kühltransportern noch ein weiteres Zelt aufgebaut. Auf Tischen drapiert und in den Kisten dahinter befinden sich 300 Kinder- und Jugendbücher für Zwei- bis 14-jährige, die die Verlagsgruppe Random House zur Verfügung gestellt hat. "Wir wollen das ab jetzt dauerhaft machen", sagt Julia Decker vom zugehörigen Kinderbuchverlag cbj. Für die Kleinsten gibt es "Der kleine Drache Kokosnuss", ein "Fast-schon-Klassiker", so Decker. Die etwas Älteren bekommen Kurzgeschichten-Anthologien, einen Jugend-Spionagethriller und was man in der Verlagswelt heute gerne "young adult", also "Jugendbücher", nennt.

Die Bücheraktion ist nicht die erste Initiative von Freiwilligen, die sich der Bildung der Tafelgäste widmet. Die 16 Bundesfreiwilligendienstler der Münchner Tafel - hier meist nur "Bufdis" genannt - haben an Ausgabestellen in der ganzen Stadt eine Umfrage gemacht, um strukturelle Nachteile im Zugang zur Bildung festzustellen und darauf zu reagieren. Einer von ihnen ist Felix Beier. Der 18-jährige Münchner wollte nach seinem Abitur im vergangenen Jahr eigentlich einen Freiwilligendienst in Kanada absolvieren, entschied sich wegen Corona jedoch für einen Dienst in seiner Heimatstadt. "Es ist wichtig, dass Kinder ein Bildungsangebot bekommen, weil sie unter der Pandemie leiden", sagt Beier. Unter den 1200 von ihm und seinen Kollegen befragten Menschen, vor allem Familien mit Kindern, fehlte jedem zehnten Schulkind ein mobiles Endgerät für den Unterricht. Von den anderen 90 Prozent besaß die Hälfte nur ein Smartphone für alle digitalen schulischen Anforderungen. 45 Prozent der Befragten hatten außerdem keinen Zugang zu Nachhilfestunden. Auf Anfrage verteilen die Bufdis der Münchner Tafel nun "Bildungsgutscheine", mit denen benachteiligte Kinder gratis Nachhilfestunden erhalten. Zusätzlich organisieren die Münchner Bufdis gebrauchte Laptops und PCs von Firmen und Großspendern. 200 bis 400 Geräte erwartet Beier etwa von der Wohnungsgesellschaft Gewofag.

"Viel zu lesen ist sehr lehrreich für Menschen, die nicht Deutsch sprechen"

Als die ersten paar Gäste durchs Tor treten, lassen sie den Büchertisch erst einmal links liegen und gehen an den Stand von Roswitha Brücklmeier. Viele wünschen sich heute Suppengrün. Brücklmeier gibt gerne ein paar Knoblauchzehen oder eine Ingwerknolle dazu. "Ich kenne die meisten", sagt die pensionierte Programmiererin. "Ich versuche immer darauf zu achten, dass die Gäste ihre Würde behalten." Die Mehrzahl der Besucher an diesem Tag sind Eltern und Rentner. Einer von ihnen ist Maximilian Reibeck. 1994 hat er als der "älteste Bufdi von Bayern" an der Tafel mitgeholfen. Heute ist der 79-jährige selbst Gast. Am Gemüsestand holt er sich eine Gurke, weiter hinten etwas Zahnpasta. "Das Brot backen wir zu Hause selber", sagt er. 78 Euro kostet es die Tafel, einen Menschen ein Jahr lang mit Lebensmitteln zu unterstützen. 22 Euro davon fließen im Schnitt in extra angekaufte Produkte, denn: Langsam bis kaum verfallende Produkte wie Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten oder Hygieneartikel befinden sich nur selten unter den Spenden.

Damit die ersten Gäste auch bei den Büchern zugreifen, wo drei Verlagsmitarbeiter geduldig warten, muss Shauna Speck erst ein paar Leute persönlich mobilisieren. Eine Mutter schaut den Stand genau an und bedankt sich wenig später für ein Bilderbuch. Auch ein Vater mit Kinderwagen steckt höflich zwei Bücher in seine Einkaufstasche. Solin und Semin Ahmad zeigen ihre Freude, als sie erfahren, dass es bei der Tafel heute etwas zum Lesen gibt. Die beiden Mädchen kamen vor vier Jahren von Syrien nach Deutschland. "Wir holen uns Obst und Gemüse, manchmal auch Kleider und Bücher", erzählt Solin Ahmad. Die 15-jährige Realschülerin liest am liebsten Krimis. Am Bücherstand lehnt sie die ihr angebotenen "Mädchengeschichten" dankend ab und nimmt sich den Agententhriller mit. "Viel zu lesen ist sehr lehrreich für Menschen, die nicht Deutsch sprechen", sagt die ältere der beiden Schwestern und muss sich bald wieder verabschieden, um ihrer Mutter beim Einkaufen zu helfen.

Die Pandemie hat auch die Münchner Tafel verändert. Im Schnitt kommen zehn Prozent mehr Menschen zur Essensausgabe und sowohl das Personal als auch die Gäste sind jünger geworden. Ob sich dadurch das Bedürfnis nach Bildung dem nach Nahrung annähert, ist schwer zu sagen. Andrea Zacher verspricht im Namen der Münchner Tafel: "Unser Kerngeschäft ist das Retten von Lebensmitteln."

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Quelle:
SZ vom 25.06.2021
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