Milbersthofen:Der Demaskierer

Günter Wangerin bezieht als Aktionskünstler immer wieder politisch Position. In Milbertshofen zeigt er jetzt Skizzen aus dem NSU-Prozess

Von Andrea Schlaier

Einen Provokateur der Staatsmächtigen könnte man sich auch anders vorstellen: Nicht zwangsläufig jedenfalls als einen, der seine Gäste am gedeckten Kaffeetischchen mit sorgsam halbierten Nussschnecken und Apfeltaschen empfängt, inmitten deckenhoher Regaltürme, auf denen sich Brecht-Gesamtausgaben neben Kafka-Konvoluten und Goya-Schinken reihen. Nicht als Anästhesisten und Lektor in Rente mit schwarzem Rolli unterm anthrazitfarbenen Sakko, schwarzem Intellektuellen-Gestell auf der Nase und moderatem fränkischen Zungenschlag, der jeden noch so harten Konsonanten weich stimmt. Mit Klischees kann der politische Aktionskünstler Günter Wangerin nicht dienen.

Die Vita des kurz nach Kriegsende in "stockkonservativem mittelfränkischem Elternhaus" Geborenen gleicht einem Streifzug durch die Geschichte der Bundesrepublik, und legt bezeichnenderweise gerade jetzt einen Stopp ein beim größten Strafprozess in Deutschland seit der Wiedervereinigung: Dem gegen die Gründer und Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), denen der Mord an zehn Menschen zur Last gelegt wird, zudem zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. "Seit 2014 sitz' ich da in Abständen drin und skizziere Angeklagte, Kläger, Zeugen, den Senat, Zuschauer, Presse und Justizbeamte." Hingeworfene Momentaufnahmen seien das, sagt Wangerin. "Am Anfang, wollte ich nur abbilden, was hier passiert, aber wenn du dich in der Absicht rein setzt, siehst du Dinge, die dir normalerweise gar nicht auffallen." Dass die Zeugen ausschließlich von hinten zu sehen sind, zum Beispiel. "Immer wieder Glatzköpfe, du hörst sie nur, aber siehst sie nie von vorne."

Den Gefallen, lesbare Gesichter zu liefern, tut einem Wangerin nicht mit seinen "Skizzen aus dem NSU-Prozess", die er bis 20. April in Milbertshofen zeigt. Die Realität abzubilden, hat ihn künstlerisch ohnehin nie satt gemacht. "Ich setze mich vielmehr mit der Realität auseinander", sagt er, "vor allem mit der Art und Weise des Umgangs mit den Menschen durch die Entscheidungsträger in der Politik." Es geht ihm - um alles: "Krieg und Frieden, Recht und Unrecht, Humanität und Barbarei, Flüchtlinge und Fluchtursachen." Fast wortgleich hat Wangerin seine Überzeugung der selbst auferlegten Verantwortung als Kunstschaffender auch vor einem Jahr zur eigenen Verteidigung im Amtsgericht München vorgetragen. Er hatte sich mit seiner schlagzeilenträchtigen "Performance" im Sommer 2015 beim Beförderungsappell junger Bundeswehr-Offiziere am Nymphenburger Schloss auf ein mitgebrachtes Höckerchen gestellt, die Maske mit dem Gesicht des Bundespräsidenten Joachim Gauck übergestreift und "Habt Acht!" gerufen. Zwei Feldjäger holten den Senior mit den schlohweißen Haaren daraufhin vom Schemel und drückten ihn zu Boden. Wangerin musste sich wegen Hausfriedensbruchs verantworten, wurde freigesprochen, hat aber die beiden Feldjäger seinerseits wegen Körperverletzung angezeigt. Auf seiner Homepage hat er einen eigenen Button für "Gerichtsmassiges". Es ist was zusammengekommen in den Jahren.

"Aufzubegehren", sagt Wangerin, und rutscht am Kaffeetischchen ganz vor auf die Stuhlkante, "war für mich was Erlösendes." Das fing mit der Auflehnung gegen die eigene Erziehung an. Der junge Medizinstudent aus der mittelfränkischen Provinz schloss sich der Studentenbewegung an, studierte Mitte der Sechzigerjahre vorübergehend in West-Berlin, ging dort das erste Mal auf die Straße und zurück nach München. Parallel bezog er von Anfang an künstlerisch Position mit politischen Comics, Karikaturen, Sketchen. 1979 entdeckte er für sich das politische Straßentheater nach dem gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht "Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy". Die satirische Protestbewegung wandte sich gegen den damaligen Kanzlerkandidaten der CDU/ CSU Franz Josef Strauß und die im Nachkriegsdeutschland wieder erstarkten Seilschaften von Alt-Nazis. Auf Militärlastern zog die Gruppe durch die Republik. Wangerin war als Maskenbildner mit dabei und kooperierte mit Regisseur Thomas Schmitz-Bender und Brecht-Tochter Hanne Hiob. "Durch ihre Vermittlung habe ich im Berliner Ensemble das Maskenmachen aus Naturkautschuk gelernt."

Die Gummi-Gesichter sind bis heute ein Markenzeichen Günter Wangerins. Im übervollen Atelier seiner Neuhauser Altbauwohnung steckt Joschka Fischer auf dem Garderobenständen, noch übrig von dessen Auftritt auf der Sicherheitskonferenz 2005, Hitler, Wagner, Ludwig II. und Stoiber hat der politische Performer für ein hitziges Willkommen bei den Bayreuther Festspielen geformt. Auf einem Stuhl das nächste Relikt: Ein Schild in Fraktur ordnet an: "Nur für Deutsche ohne Migrationshintergrund." In neun Sprachen hat der Provokateur den Text vergangenen Herbst auf Bänken befestigt und sie als Protest-Möbel gegen das bayerische Integrationsgesetz in der Stadt aufgestellt.

Weit weniger frontal verfährt der 71-Jährige in seiner Malerei, den Cartoons und Skulpturen, bei denen er den satirischen Stachel gern in vordergründig harmlose Kulissen pflanzt. Ob das nun Hitler im Einwohnermeldeamt ist, "menschliches Strandgut" in stürmischer Badelandschaft oder das "Unschuldengelchen" mit Stahlhelm auf deutschem Camouflage-Block. Seine NSU-Skizzen hätte der zweifache Vater mit einer flankierenden Podiumsdiskussion auch gern in einen Kontext gestellt. "Klappt nicht. Sehr schade." Jetzt reiht er sie an die gemalten Porträts der Mordopfer und erzählt Besuchern eben selbst, warum Beate Zschäpe bei ihm nicht im Mittelpunkt steht: "Mir geht es mehr um die Rolle der Bundesanwaltschaft." Journalist Robert Andreasch von der Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München wird ihm bei der Vernissage im Kulturhaus Milbertshofen, Curt-Mezger-Platz 1, an diesem Samstag, 11. März, 19 Uhr dabei zur Seite stehen.

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