SZ-Serie: Bühne? Frei!:Wunden zeigen

SZ-Serie: Bühne? Frei!: Michael von Brentano, Jahrgang 1960, arbeitet als Bildhauer in Seeshaupt. Von 1997 bis 2018 war er auch Fachlehrer für Bildhauerei an der Fachschule für Holzbildhauer in Garmisch-Partenkirchen.

Michael von Brentano, Jahrgang 1960, arbeitet als Bildhauer in Seeshaupt. Von 1997 bis 2018 war er auch Fachlehrer für Bildhauerei an der Fachschule für Holzbildhauer in Garmisch-Partenkirchen.

(Foto: Privat)

Kultur-Lockdown, Tag 111: Das Publikum braucht Künstler, findet der Bildhauer aus Seeshaupt

Gastbeitrag von Michael von Brentano

Heuer jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag von Joseph Beuys. Das erste Mal begegnete ich ihm 1976 in einer abgetakelten Unterführung unter der Maximilianstraße. Dort hatte er das Werk "Zeige Deine Wunde" installiert. Ich kann mich gut erinnern, dass ich, 16-jährig, so etwas wie eine Initiation erlebte. Hier war nicht nur ein Kunstwerk, nein, ein Kosmos, der mir geradezu schlagartig die ganze Sinnhaftigkeit meiner menschlichen Existenz bewusst machte. Welch eine unglaubliche Präsenz der Künstler durch das Bild an diesem Ort hatte, obwohl er physisch gar nicht anwesend war.

Für mich offenbart sich in dieser Geschichte die starke Kraft der Bilder, an die ich immer geglaubt habe und die für mich ein Lebensmittel ist. Kein geschlossenes Museum und keine Ausstellung ohne physisch anwesende Besucher hindern den Künstler daran, schöpferisch zu sein. Schöpferisch zu sein heißt, sich nicht zu scheuen, "seine Wunden zu zeigen". Nur dadurch können wir in Kontakt mit der nichtmateriellen Welt treten und in die metaphysischen Bereiche des Lebens vordringen. Jedoch: Was wir brauchen, ist der Austausch mit anderen Künstlern und dem Publikum.

Umgekehrt ist noch wichtiger, dass wir so selbstbewusst sein dürfen, nicht nur zu erkennen, sondern sogar einzufordern, dass das Publikum uns braucht. Wir dürfen uns nicht zurückziehen und warten, bis wir die Foren wiederbekommen, an die wir uns gewöhnt hatten und die selbstverständlich waren. Wer weiß, ob das jemals wieder so sein wird? In diesem Pandemiejahr planen meine Frau, die Architektin Katharina Heider, und ich an unserem Wohnort Seeshaupt ein Kunstprojekt auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei aus Familienbesitz. Das Bebauungskonzept meiner Frau, das nicht nur bezahlbaren Wohnraum schaffen soll, muss noch administrative Hürden nehmen, bevor es ans Bauen geht.

Für diesen Transformations- und Leerraum haben wir 30 Künstler und Künstlerinnen gebeten, an dem außergewöhnlichen Ort tätig zu werden. Die Resonanz ist großartig! Bereits Mitte März werden dort die ersten Kunstwerke entstehen, in Gewächshäusern, einer Verkaufshalle und dem Freigelände: Installationen, Performance, Soziale Plastik. Zu jeder Zeit wird das Gelände frei zugänglich sein. Die Aktion wird den privaten Raum in den öffentlichen bringen. Sie wird Mittlerin eines unumstößlichen Wandels sein.

Es ist schon bemerkenswert, dass Beuys' Theorien zum erweiterten Kunstbegriff nicht nur aktueller denn je, sondern geradezu zeitlos sind. Er hat es so formuliert: "Diesmal muss diese Auferstehung durch den Menschen selbst vollzogen werden. Der Mensch muss sich gewissermaßen selber aufraffen und auferstehen. Und das ist ja der wahre Sinn des Wortes Kreativität."

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