Wer mit elf Geschwistern in einem Boot, einem Bus, einem Schloss aufwächst, weiß Stille sicher zu schätzen. Das unglaubliche Leben der Kelly Family wurde und wird gerade wieder in all seinem Wahnwitz medial nacherzählt: "Beautiful Madness" könnte man mit einem späteren Solo-Hit vom Drittjüngsten (damals "Paddy") dazu sagen. Heute, 28 Jahre nach seiner Ballade für seine Mutter "An Angel", zeigt sich Michael Patrick Kelly gerne allein in einem Schiff auf dem Ozean. Der Solo-Popstar der Familie Kelly sucht aber auch nach Begegnungen mit Kollegen wie Rea Garvey ("Best Bad Friend"), inspirierenden Persönlichkeiten für sein fünftes Album "B.O.A.T.S" und Zigtausenden Fans auf seiner nun startenden Konzertreise.
In der ARD und auf Youtube gibt es einen poetischen Dokumentarfilm zu Ihrem Album "B.O.A.T.S". Wer hatte die Idee dazu?
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Das ist mein Herzensprojekt. Kunst ist eine Symbolsprache. Ich finde es immer schwierig, Musik zu erklären. Aber mit starken Bildern und einer Stimme, die den Zuschauer in deine persönlichsten Gedanken mitnimmt, verstehen die Leute noch mehr, was in dem Album drinsteckt: welche Arbeit, welches Handwerk, welche Kunst, und auch, was der Prozess des Songwritings ist. Ich habe das Projekt auch selber finanziert. Der englische Original-Text ist von mir.
Einmal besuchen Sie Henry Wanyoike, einen blinden Langstreckenläufer, der bei den Paralympics in Sydney seinen kollabierten Begleiter über die Ziellinie schleppte. Sie wechseln da in die Rolle des Fragen stellenden Reporters. Fällt Ihnen das leicht?
Ich finde das nicht so schwer. Weil ich ein interessierter Songwriter bin, der gerne Inspirationen aufsaugt. Meine Vorbilder sind Leute wie Bob Dylan und Bruce Springsteen. Die haben sich mit Vietnam-Veteranen getroffen oder mit den Familien von Feuerwehrleuten, die im World-Trade-Center ums Leben gekommen sind. Und aus den Gesprächen machen sie Songs, als Dienst an der Gesellschaft. So verstehe ich meine Arbeit auch. Natürlich gibt es Songs, die aus meinen eigenen Erfahrungen kommen, aus Gefühlslagen oder Erkenntnissen, aber genauso interessieren mich Menschen. Und vor allem, was ich Redemption Storys nennen würde.
Können Sie ein Beispiel nennen für so eine "Erlösungsgeschichte"?
Den Song "Icon". Ich trete manchmal in Gefängnissen auf. Einmal begegnete ich einem Häftling mit langem Bart, der sehr ausgeglichen wirkte und etwas mehr Freiheiten hatte als andere Häftlinge. Ich erfuhr, dass er lebenslänglich bekommen hatte. Er wollte mir unbedingt seine Zelle zeigen. Die war vollgestopft mit Ikonen. Er hat im Gefängnis eine Umkehr erlebt, ist ein gläubiger Mensch geworden. Nachdem er seine Zeit abgesessen hatte, ist er in Griechenland in ein Kloster eingetreten und hat weiter Ikonen gemalt als Buße, als Gebet. Poetisch gesagt: Er hat sein Leben neu gemalt. So etwas berührt mich. Ich hatte neulich auch ein Podcast-Gespräch mit Samuel Koch. Was der aus seiner Situation macht, finde ich unfassbar: Er kann nach seinem Unfall bei "Wetten dass" außer einer Hand kaum etwas bewegen, aber er ist Schauspieler am Theater in Mannheim, ein superschlauer, eloquenter, belesener Typ. Das sind Menschen, die mich total inspirieren, weil sie wie ein Judo-Fighter die Kraft der Schläge des Lebens umdrehen und einen Nutzen daraus ziehen, wo du denkst: Das ist der Mensch, wenn er groß ist.
Haben Sie selbst solche Schicksalsschläge erlitten? Einmal abgesehen natürlich vom frühen Tod Ihrer Mutter, den Sie auch in der Doku thematisieren.
Ja, klar, ich hatte mit Anfang 20 eine Lebenskrise, wo ich kurz davor war, mir den Stecker zu ziehen. Ich habe Gott sei Dank im letzten Moment noch reagiert und eine Psychotherapie gemacht. Und habe mich parallel für Spiritualität interessiert. Ich bin in ein Kloster in Frankreich gegangen. Als ich nach sechs Jahren ins weltliche Leben zurückkam, war das nicht einfach. Aus dem geregelten Tagesablauf kommst du in die Welt raus und fragst dich: Wie ziehe ich mich an? Wann stehe ich auf? Wie verdiene ich plötzlich wieder Geld? Ich musste auch meine Gesundheit in den Griff bekommen. Die letzten Monate im Kloster war ich ständig krank und chronisch erschöpft. Das war der Grund, weshalb die älteren Mönche meinten, das Klosterleben sei auf Dauer nichts für mich. Einer sagte zu mir: "Hey, schnapp dir ein Mädchen, mach Musik und geh mit Gott."
So einfach war es aber nicht, richtig?
Nein. Ich brauchte erst mal das Vertrauen, wieder neu anzufangen. Wie bei einem Navi: "Die Route wird neu berechnet". Und dann war es ein Zick-Zack-Weg. Ich habe wieder angefangen, vor 300 Leuten zu spielen, und die Welt war inzwischen ziemlich verändert: Auf einmal hatte jeder ein Handy dabei und filmte mich. Das war jetzt kein schwerer Schlag, aber eine große Herausforderung, wenn man aus der völligen Zurückgezogenheit kommt. Das Gute daran: Es macht mich zu einem anpassungsfähigen Menschen, wenn man von einer radikalen Lebensart in die nächste springt. Dann ist man von einer Pandemie nicht erschlagen oder von einem grausamen Krieg nicht so sehr in Angst erstarrt, dass man die Hoffnung verliert.
Sie lassen sich aber nicht nur vom Navi einer höheren Macht leiten. Nehmen Sie nicht gerne selbst die Landkarte in die Hand und suchen nach dem besten Weg zu den schönsten Zielen?
Ich verstehe Gott wie den unsichtbaren Regisseur meines Lebens. Aber ob ich die Rolle wie ein Marlon Brando spiele oder wie ein Brad Pitt, das liegt in meiner Hand. Gott ist kein Diktator. Er gibt dir Mittel, Fähigkeiten und Freiheiten. Aber er schreibt dir die Worte nicht vor, er lässt dich sprechen, wie du es fühlst. Meine Pläne und Ziele entstehen durch meine Sehnsüchte.
Und dabei kommen Sie ganz schön herum in der Welt. Sie sind schon wieder umgezogen, richtig?
Ich habe ein Jahr am Ammersee gewohnt, dann in Niederbayern, jetzt wohne ich im Münchner Raum. Meine Freunde aus Berlin sagen immer: Boah, wenn du da falsch parkst, bekommst du sofort eine Knolle. Ich muss zugeben, das ausgeprägte Ordnungsbewusstsein tut mir als Künstlerchaot ganz gut, das hilft mir, eine Balance zu finden. München ist meine Wahl-Hometown geworden. Wenn ich lange weg war und zurückkomme, atme ich erst mal tief durch. Ich habe einen kleinen, aber guten Freundeskreis hier. Man hat einen Flughafen, der dich mit der Welt verbindet; du bist mit dem Auto in fünf Stunden in Verona, die Berge, die Seen, alles krass schön. Ich mag die Leute. Die lassen dich auch in Ruhe, wenn sie dich erkennen. Es fühlt sich wie eine Weltstadtmetropole an, mit dem Fußball, der Filmbranche, viel internationales Flair. Aber es hat auch etwas Uriges, Traditionelles, und dieses oft genannte "Mia san mia" finde ich niedlich.
Gehen Sie hier auch in Konzerte, ins Theater?
Doch, gerne. Ich habe nicht viel Zeit dafür. Aber wenn zum Beispiel Ed Sheeran hier ist, oder James Bay, gehe ich hin. Manchmal auch zu Klassikkonzerten, zum Beispiel im Gasteig. Ich mag Konzerte ohne Stimmen. Wahrscheinlich höre ich meine eigene Stimme zu oft am Tag. Als Produzent kriege ich die Arbeitsmaschine im Kopf bei Instrumentalmusik besser ausgeschaltet.
Als Sie bei Ihrem Konzert am Königsplatz eine große Friedensglocke auf der Bühne läuteten, sagten Sie nach einer andächtigen Minute: "So, genug geschwiegen, jetzt ist Partytime." Also, Sie suchen gerne die Stille, um in sich hinein zu hören, dann wiederum stürzen Sie sich in den Lärm, ins Getümmel. Wo ist es Ihnen am liebsten?
Es gibt zwei Antworten: Die eine ist mehr aus der Sicht des Musikers. Musik findet in der Zeit statt, mit einem Timing, es gibt Pausen, es gibt Stille, und es gibt Töne. Wenn du dem zweiten Chorus in einem Song noch einen Impact geben willst, mach davor einen Beatbreak, dann haut der noch stärker rein. Still und laut erzeugt Dynamik. Aber menschlich gesehen, da habe ich gelernt, dass die Stille eine Wahnsinnsquelle ist an Erkenntnis, an Ruhe, an Inspiration. Im Kloster fiel es mir anfangs schwer, fünf Minuten die Klappe zu halten. Aber was ich dort gelernt habe, ist Seelentauchen, also nicht nur an der Oberfläche zu schnorcheln. Du tauchst in dich hinein und findest viel Schönes: "Wow, ein toller blauer Fisch!" Aber auch Unschönes: "Eine Plastikflasche, weg damit, das ist Dreck." So räumt man bei sich auf. Wenn ich es schaffe, nehme ich mir morgens eine halbe oder ganze Stunde Zeit und genieße die Stille.
Und das führt zu Songs wie "B.O.A.T.S.", das steht für "Based On A True Story". Es geht darum, die Lebenslügen und -muster zu entlarven. Welchen Selbstbetrug haben Sie gerade bei sich aufgedeckt?
Wir gehen ans Eingemachte! Es ist ein Album über wahre Geschichten. Man sagt, ein gutes Lied besteht aus drei Akkorden und der Wahrheit. Und darum geht es in dem Titelsong: Wo reden wir die Dinge schön, wo fälschen wir unsere Geschichte und rechtfertigen das mit Bullshit. Viele Menschen haben falsche Bilder von sich selber. Es gibt ein Bestseller-Buch: "Die Kunst des klaren Denkens", in dem 52 Denkfehler beleuchtet werden. Der erste Punkt ist Selbstüberschätzung. Der zweite ist: Selbstunterschätzung. Mein Vater zum Beispiel war sehr vom amerikanischen Pioniergeist geprägt. Als wir noch in der Münchner Fußgängerzone spielten, sagte er: "Eines Tages füllen wir Stadien!" Zeig' mir mal auf der Kaufinger Straße einen Musiker, der das sagt. Er hat mit seiner Vision recht behalten. Und obwohl ich diese Prägung habe, träume ich zu klein. Ich meine das nicht vom Erfolg her oder materialistisch, eher so: Was könnte ich in den nächsten Jahren noch bewegen, um Menschen Gutes zu tun?
Was könnte das sein?
Ich denke daran, eine Stiftung zu gründen. Also auf jeden Fall etwas unabhängig von der Musik. Rick Rubin, der so viele tolle Musik produziert hat, hat gesagt: "Alles ist möglich, wenn du es auf kleine Schritte runterbrichst."
Zum Beispiel wollen Sie Frieden. Also, wer will das nicht? Aber Sie wurden einmal bei einer Friedensdemo vor dem UN-Gebäude in New York verhaftet. Inzwischen geht eine beeindruckende Friedensglocke mit Ihnen auf Konzerttournee.
Ich bin als Musiker auch auf Kontinente und in Länder gekommen, wo Krieg war, deswegen war für mich die Realität des Krieges immer präsent. Mit der "Peace Bell" unterstütze ich friedenstiftende Projekte und versuche, den Menschen den Wert des Friedens ins Bewusstsein zu holen. Dafür gab es viel positives Feedback, aber auch mal belächelnde Kommentare: "Jaja, schöne idealistische Poesie." Gerade in den letzten Monaten haben viele aber nochmal gemerkt: Unsere Sicherheit ist nicht selbstverständlich. Wir haben gerade eine neue Peace Bell gießen lassen, sie wird das erste Mal beim Konzert in Ulm zu hören sein. 840 Kilo schwer, aus Kriegsschrott aus der Ukraine. Freunde von mir, die dort Nahrungsmittel und Kleidung hingebracht haben, haben Granathülsen aus Kiew und Panzerstücke teilweise aus Butscha mitgebracht. Die haben wir einschmelzen lassen. Die Glocke wird in den Arenen, auch in der Olympiahalle, die Schweigeminute einläuten.
Was bringt es zu schweigen, wenn dann doch auf die Lauten gehört wird?
Wir brauchen Orte, wo man den Spirit von Frieden spüren und teilen kann. Ich bin oft auf Friedensdemos gewesen, manchmal wurde mir da zu viel rumgebrüllt. Wenn tausende Menschen bei einem Pop-Rock-Konzert plötzlich innehalten und eine Minute schweigen, dann hat das eine unbeschreibliche Kraft, du spürst die Dichte der Luft. Gerade das Publikum in München ist sehr stark darin, große emotionale Momente zu schaffen.
Michael Patrick Kelly, Do., 15. Sep., Ulm, Sa., 24. Sep., München, Olympiahalle