Ausstellung:Perfekt anders

Ein Gipsabdruck des Torso von Belvedere und eine Skulptur von Marc Quinn: "Alison Lapper (8.M0nat)"

Ein Gipsabguss des berühmten Torso vom Belvedere und im Vordergrund Marc Quinns Skulptur "Alison Lapper (8.Monat)".

(Foto: MeWo Kunsthalle Memmingen)

Die Mewo-Kunsthalle in Memmingen hinterfragt die gängigen Schönheitsideale und überrascht in vielerlei Hinsicht mit einer komplett barrierefreien Ausstellung.

Von Sabine Reithmaier, Memmingen

Im Lichthof steht ein Gipsabguss des berühmten Torso vom Belvedere, eine antike Marmorskulptur, von deren Ausdruckskraft sich nicht nur Michelangelo inspirieren ließ. Nur Rumpf und Oberschenkel sind erhalten, Kopf, Arme und die Beine unterhalb der Knie fehlen. Direkt neben dem Rumpf ist eine weiße Marmorstatue des britischen Künstlers Marc Quinns platziert: "Alison Lapper Pregnant", das Abbild einer schwangeren Künstlerin, die ohne Arme und mit verkürzten Beinen geboren wurde; die größere Version der Skulptur stand, 15 Tonnen schwer, von 2005 bis 2007 auf dem Londoner Trafalgar Square. Die Marmorfrau ist makellos, schöner als der mit Gebrauchsspuren übersäte Gipsabguss aus dem 19. Jahrhundert. Schon gerät man ins ins Nachdenken über Schönheitsideale.

"Imperfekt" hat Axel Lapp, Leiter der Mewo-Kunsthalle in Memmingen, die Ausstellung genannt. In ihr geht es um die Darstellung von Körpern, perfekter und weniger perfekter. Wobei letztere in der Kunst kaum auftauchen außer es handelt sich um antike Fragmente. Nikola Irmer, eine in Starnberg geborene und in Berlin lebende Künstlerin, hat ihren über 80-jährigen Vater gemalt, die alternden Männerkörper bilden einen seltsamen Gegensatz zum muskulösen Torso. Annegret Soltau fotografiert für ihre Collagen den eigenen Körper, aber auch den von Tochter, Mutter und Großmutter. Nach dem Zerschneiden der Fotos näht sie die Bruchstücke mit Nadel und Faden zusammen, komprimiert so den Prozess der allmählichen Veränderung eines Körpers.

Bruno Metra / Laurence Jeanson: Julie

"Julie" mit aufgeklebtem Hochglanzmund - ein Werk von Bruno Meta und Laurence Jeanson.

(Foto: Bruno Metra / Laurence Jeanson)

Mit Werbung, die Bilder von perfekten Models liefert, setzen sich die Fotografen Bruno Meta & Laurence Jeanson auseinander. Sie schneiden Nasen, Lippen oder Augen aus Hochglanzmagazinen und kleben die Ausschnitte ihren Models, "normalen" Frauen, mit Klebestreifen ins Gesicht. Abgesehen von dem surrealen Kontrast wirkt das fast wie eine Vorbereitung auf plastische Eingriffe, mit denen Frauen weltweit zunehmend dem propagierten Schönheitsideal näherzukommen versuchen. In eine ähnliche Richtung zielt Daniele Buetti, der das Logo der jeweiligen Modefirma in die makellosen Körper der Werbemodels stanzt und sie so zerstört. Eindrucksvoll auch die Arbeit von Adi Hösle. Er hat für "I'm a model" Angela Jansen fotografiert, eine Aktivistin für Behindertenrechte. Sie hat amyotrophe Lateralsklerose (ALS), wird seit 1998 beatmet, kann nur mit den Augen kommunizieren. Doch Hösles Foto zeigt eine strahlend schöne Frau, die Behinderung tritt völlig in den Hintergrund. Erschütternd dagegen sind die Aufnahmen von Anna Coleman Ladd, die im Ersten Weltkrieg Masken für Männer herstellte, die der Krieg schwer entstellt hatte. Die Prothesen aus dünnem verzinktem Kupfer ersetzten fehlende Nasen, manchmal auch den vollständig zerstörten Teil eines Gesichts. Schmerzhaft auch das Video von Masbedo, in dem von der schwerlosen Eleganz eines Balletttänzers nur die Nahaufnahme zweier kaputter, zerschundener Füße bleibt. Doch Lapp, der viel darüber nachdenkt, wie sich Museen in Zukunft aufstellen sollten, hat sich nicht nur auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit fragwürdigen Schönheitsidealen beschränkt. Er hat konsequent versucht, die Ausstellung barrierefrei zu gestalten, die Inhalte wirklich für alle Menschen zugänglich zu machen, auch für diejenigen, die nicht hören oder sehen können oder mit anderen Einschränkungen zurechtkommen müssen. Eintritt zahlt in der Mewo-Kunsthalle schon seit zwei Jahren niemand mehr, das Leitbild lautet "Kultur für alle".

Neben Orientierungsplänen und Bodenleitsystemen, die das Sichtzurechtfinden im Ausstellungsraum erleichtern, gibt es erstmals ein Begleitheft mit Informationen in leichter Sprache, gut zu lesen auch für Kinder. Dazu drei Video-Stelen, in denen ein Gebärdendolmetscher von den Kunstwerken erzählt, Infos in Braille-Schrift, zweierlei Audioguides - neben der normalen Führung auch einen mit poetischen Texten der englischen Künstlerin Emma Bolland. Und es gibt Kunstwerke, die man anfassen darf: Neben dem Gipsabguss sitzt in Originalgröße ein 3D-Druck-Torso, ein Sandkunststoffgemisch zum betasten. Die ganz "normalen" Ausstellungstexte hängen in Augenhöhe an der Wand, aber in einer deutlich größeren Schrift als sonst üblich. Und das ist tatsächlich schon für jeden Besucher ab 50 enorm hilfreich.

Imperfekt, eine Ausstellung zur Barrierefreiheit, bis 1.11., Mewo-Kunsthalle Memmingen

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: