Süddeutsche Zeitung

Messestadt Riem:Alles ist politisch

Das Demokratie-Lokal will mit Veranstaltungen in einfacher Sprache Theorie und Praxis des Parlamentarismus vermitteln. Beim Thema "G'scheid wählen" geht es auch um Teilhabe über die reine Stimmabgabe hinaus

Von Lea Hruschka, Messestadt Riem

Konzentriert und mit gerunzelter Stirn sitzt Immanuel Obisiw an diesem Nachmittag im Nachbarschaftstreff "Heinrich trifft Böll" des Kinderschutz München. Zwischendurch entspannt sich sein Gesichtsausdruck und er muss lachen. Vor ihm referiert Paul Gaedtke von der Münchner Volkshochschule über die deutsche Demokratie und beantwortet Obisiw eine Frage nach der anderen. Obwohl der Ghanaer gar nicht wählen darf, ist er zur Veranstaltung "G'scheid wählen" gekommen. Das wiederum dürfte Hannah Suttner freuen, sieht sie es doch als ihren Auftrag, "Menschen zu erreichen, die sonst nicht unbedingt erreichbar sind".

Suttner hat das Veranstaltungsformat im Zuge ihres "Demokratie-Lokals" mitentwickelt. Das ist kein Ort, sondern eine Bezeichnung für ihre Arbeit, bei der sie zusammen mit zwei Kolleginnen Broschüren in einfacher Sprachen erstellt und Veranstaltungen zur Demokratieförderung organisiert. Vor drei Jahren ist "G'scheid wählen" so zum ersten Mal entstanden. In Berg am Laim ging die Infoveranstaltung seinerzeit als Kooperation zwischen Bildungslokalen, Nachbarschaftstreffs und Volkshochschule an den Start.

Das Demokratie-Lokal konnte dabei nur koordinierend mithelfen, denn das Geld zur Finanzierung fehlte noch. "Wir haben drei Jahre lang Demokratieförderung ohne Budget betrieben", sagt Suttner. Am Ende jedes Jahres musste sie außerdem bangen, ob ihr Projekt weiter finanziert wird. "Die Unsicherheit ist jetzt weg", freut sie sich. Denn in diesem Jahr hat die Stadt München das Demokratie-Lokal nach einem Antrag der SPD fest in die Fachstelle für Demokratie integriert. Dank des größeren Budgets, das damit einhergeht, kann es Veranstaltungen zur Demokratieförderung von nun an auch an Nachbarschaftstreffs ohne Bildungslokal im Viertel geben, wie im Feierwerk in Sendling-Westpark.

Worauf sich diese Nachbarschaftstreffs freuen können, demonstriert an diesem Nachmittag das Bildungslokal im "Vorzeigeviertel", wie Suttner die Messestadt Riem nennt. Beim Vortrag von Referent Gaedtke dreht sich alles um die Frage: "Was sind die Konsequenzen meiner Stimme?" Die Antwort ist im deutschen System nicht so einfach, wie sich schnell herausstellt. Das Schaubild, das an die Wand und immer wieder auf das Gesicht des Referenten projiziert wird, zeigt den Reichsadler umringt von den Verfassungsorganen. Bundesrat, Bundestag, Bundeskanzler und Bundespräsident - da kommen auch deutsche Staatsbürger schnell durcheinander.

In einfacher Sprache will Gaedtke erklären, was eine Koalition ist, wer die Minister ernennt und warum es bei Bundestags- und Landtagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde gibt. "Der Begriff Hürde kommt aus dem Sport", erläutert er beispielsweise. Das gefällt Obisiw, der aufmerksam zuhört und selbst immer wieder Parallelen zum Sport zieht. Die Kanzlerin habe ihre "Mannschaft" aus Ministern, weiß er beispielsweise. Mit einem Lachen erklärt der Ghanaer: "Fußball und Politik, dafür interessiere ich mich eben."

Die Theorie der deutschen Demokratie hat Gaedtke den drei Teilnehmern nach eineinhalb Stunden erklärt. Wie sie dieses System in der Praxis auch ohne Wahlrecht aktiv nutzen und mitgestalten können, vermitteln dann die Organisatoren der Infoveranstaltung Angela Pritschet, Leiterin des Nachbarschaftstreffs in der Messestadt, sowie Florian Jakobi, Leiter des dortigen Bildungslokals. Es gebe die Möglichkeit, sich in einer Partei, in Stiftungen, Gewerkschaften und Vereinen einzubringen. "Wenn ihr ein Anliegen habt oder Mängel entdeckt, könnt ihr auch an den Bezirksausschuss schreiben", fügt Pritschet hinzu. Letztendlich habe jede Diskussion, in der man seine Meinung sage, ihre Wirkung. "Ganz vieles ist eigentlich politisch", sagt Pritschet. Sie betont, dass auch für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft "Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Prozessen" möglich sein soll.

Deshalb lädt sie zur nächsten Veranstaltung, dem Wahltagscafé am Sonntag, 26. September, auch wieder jene Besucher ein, die an diesem Tag gar keine Stimme abgeben dürfen. Das Ziel sei, die Wahl zum "Gemeinschaftserlebnis" zu machen. Möglich wäre dieses Angebot nicht ohne die Hilfe des Demokratie-Lokals, betont Pritschet. Denn die Münchner Treffs hätten eine "nicht allzu üppige Personalausstattung", weshalb zusätzlichen Materialien eine starke Erleichterung für Pritschet sind. "Da bin ich dankbar", sagt die Nachbarschaftstreffleiterin. Unter Suttners Broschüren ist auch ein Heftchen namens "Mitmachen in der Demokratie". "Ein Pixi-Heft für Erwachsene", erklärt Suttner stolz. In einfacher Sprache wird erklärt, wie man glaubwürdige Quellen erkennen kann, warum es wichtig ist, die deutsche Geschichte zu kennen und wie sich jeder in einer Demokratie beteiligen kann.

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SZ vom 09.09.2021
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