Süddeutsche Zeitung

Messerattacke in Grafing:Die Spuren der Kreidequadrate

Offenbar wahllos hat ein Mann in Grafing auf vier Menschen eingestochen, einer stirbt. Am Ende zählen die Ermittler 98 blutige Fußabdrücke des Täters. Die Rekonstruktion einer brutalen Tat.

Von Susi Wimmer

Der Mann von der Spurensicherung robbt auf allen Vieren die Straße entlang, geht dicht mit der Nase in Richtung Asphalt, legt den Kopf schräg, überlegt und malt dann mit weißer Kreide ein Viereck auf den Boden, daneben die Zahl 98. Sie steht für die Anzahl blutiger Fußspuren, die der Täter hinterlassen hat - Spuren sinnloser Gewalt.

Offenbar wahllos hatte ein junger Mann kurz vor fünf Uhr morgens auf vier Männer am S-Bahnsteig in Grafing Bahnhof und vor dem Bahnhofsgebäude eingestochen. Eines seiner Opfer, ein 56-jähriger Mann aus Wasserburg, stirbt zwei Stunden später im Krankenhaus.

Eine Wahnsinnstat an einem Kleinstadt-Bahnhof gut 30 Kilometer östlich von München? Oder steckte womöglich mehr dahinter? Gar eine mörderische Aktion mit politischem Hintergrund? Und das in Grafing, einer eher beschaulichen Stadt mit 13 000 Einwohnern? Und dann auch noch am frühen Morgen?

Zunächst jedenfalls ist nichts klar, und alles scheint möglich zu sein. Wirres Zeug habe der Täter geplärrt, heißt es schon wenig später am Bahnhof. Und natürlich wird es auf Twitter und Facebook verbreitet. "Ungläubiger, du musst sterben", habe er gerufen und auch "Allahu akbar". Und schon ist das Gerücht in der Welt, der Täter könnte einen islamistischen Hintergrund haben.

Am Nachmittag ist klar: keine islamistische Tat

Auch die Ermittlungsbehörden wollen das erst einmal nicht ausschließen. Bis zu 100 Einsatzkräfte werden in Grafing zusammenzogen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière äußert sich: "Das war eine abscheuliche, eine feige Messerattacke", sagt er - aber Spekulationen wolle er nicht anheizen. Sein bayerischer Kollege Joachim Herrmann versucht, schon am Vormittag zu beruhigen: Es könnte auch alles ganz anders sein. Eine Irrsinnstat eben, ohne islamistischen Zusammenhang.

Am Nachmittag sind die Ermittler des Bayerischen Landeskriminalamts (LKA) so weit, dass sie das bestätigen können: Diese Tat hat kein politisches oder religiöses Motiv. Es gibt keinen Grund für das Geschehen von Grafing-Bahnhof. Es ist eine zufällige Tat an einem zufälligen Tatort mit zufälligen Opfern.

Weder aus dem Staatsschutzbereich noch von Nachrichtendiensten gebe es Hinweise darauf, dass der Täter "in irgendeiner Form" Bezüge zu islamistischen, salafistischen Gruppierungen oder Personen gehabt habe, sagt Lothar Köhler vom LKA. Es ist einfach die Geschichte eines wirren jungen Menschen.

Die begann offenbar vor wenigen Tagen in Hessen. Paul H. stammt aus Gießen, ist ledig und gelernter Schreiner, bezog seit zwei Jahren Sozialhilfe. Nach eigenen Angaben nahm er Drogen, wohl Cannabis. Reichlich wirres Zeug hat er deshalb offenbar gebrabbelt, weshalb er vor wenigen Tagen schon der Polizei in Hessen aufgefallen war. Gewalttätig wurde er aber nicht, im Gegenteil: Von Sonntag auf Montag begab er sich sogar in psychiatrische Behandlung.

Was danach passierte, rekonstruiert das LKA aus den Aussagen des Täters und von Zeugen so: Paul H. fährt am Montag mit dem Zug über Fulda nach München. Dort sucht er sich ein Hotel, steigt aber nirgendwo ab, weil ihm das nötige Geld fehlt. Also bleibt er am Hauptbahnhof, lernt einen ungarischen Passanten kennen und hängt mit ihm herum. Er fühlt sich schlecht, will aus München weg und einfach weiterfahren, womöglich nach Wien. Er kommt aber nur bis Grafing-Bahnhof, wo ihn die Videoüberwachung in der Nacht zum Dienstag um 1.38 Uhr erfasst.

Klingenlänge von etwa zehn Zentimetern

Die S-Bahnstation Grafing-Bahnhof ist ein Drehkreuz für den Bahnverkehr im Osten Bayerns, ein sogenannter Trennungsbahnhof. Von hier aus werden unter anderem die Bahnstrecken nach München, Rosenheim und Wasserburg bedient, hier werden Züge abgekoppelt, Waggons werden aus dem Depot geholt.

Am Dienstag soll die erste S-Bahn um 5.01 Uhr abfahren, Siegfried W. aus Wasserburg, 56, will damit Richtung München. Eine Viertelstunde vorher kommt Paul H. auf ihn zu, mit einer "Art Survivalmesser in einem Leder-Etui" bewaffnet, wie die Ermittler später sagen werden, Klingenlänge etwa zehn Zentimeter. Paul H. läuft barfuß - später wird er bei der Polizei sagen, er habe Wanzen an den Füßen und könne nur ohne Schuhe laufen.

Und ja, er habe Drogen genommen - die Polizei findet tatsächlich einen Behälter mit Drogenrückständen. Der 27-Jährige fuchtelt mit dem Messer herum, schreit und sticht schließlich auf Siegfried W. ein. Danach flieht er aus der S-Bahn und zieht seine blutige Spur über das Bahnhofsgelände.

Noch am Bahnsteig trifft er auf sein zweites Opfer, einen 55-Jährigen aus Grafing. Auch auf ihn sticht er plötzlich und mit voller Wucht ein. Dennoch gelingt es dem Mann, einen Notruf abzusetzen. Die blutigen Fußspuren führen vom Bahnsteig weg, ein paar Treppenstufen hinunter, hinaus auf den Vorplatz, wo vereinzelt Autos parken.

Um diese Zeit sind ein 58- und ein 43-jähriger Grafinger auf ihren Fahrrädern unterwegs, an einem der Räder hängt ein Anhänger mit Tageszeitungen. Die Männer werden auf die Schreie aus dem Bahnhof aufmerksam, lassen ihre Räder fallen und wollen zu Hilfe eilen. Auch auf sie sticht der Täter völlig grundlos ein, einer der Männer wird dabei so schwer verletzt, dass er in das Unfallkrankenhaus Murnau gebracht werden muss.

Bei der Festnahme leistet der junge Mann keinen Widerstand

Mitarbeiter der Bahn haben zu der Zeit längst ebenfalls einen Notruf abgesetzt. Polizisten der Inspektion Ebersberg eilen herbei, es sind sehr junge Beamte. Doch Paul H. lässt sich widerstandslos festnehmen - auch dafür gibt es keine Erklärung. Hendrik Polte, Leiter der Polizeiinspektion in Ebersberg, ist stolz auf seine Beamten: "Die Kollegen sind natürlich für solche Situationen ausgebildet", sagt der Polizeichef.

Die überlegte Ruhe der Polizisten ist an diesem Tag in Grafing das einzig Positive. Ansonsten herrscht Ratlosigkeit, selbst bei der Staatsanwaltschaft. "Das passt alles nicht richtig zusammen", sagt Oberstaatsanwalt Ken Heidenreich. Zu wirr sind die Aussagen des Täters, zu irr die Taten. Deshalb gibt es auch Bedenken zur Schuldfähigkeit von Paul H. Am späten Nachmittag war daher unklar, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt einen Haftbefehl oder gleich die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik beantragen werde.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2016/imei
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