Süddeutsche Zeitung

Mental Maps:Die Stadt in meinem Kopf

Lässt man beliebig ausgewählte Menschen Karten von München malen, zeigt sich vor allem eines: Es gibt nicht DAS München. Jeder sieht seine Umgebung mit seinen eigenen Augen, jeder erlebt etwas anderes. Ein Einblick in verschiedene Wirklichkeiten

Von Bastian Hosan

An einer Straßenecke in Milbertshofen sitzen Anna und Edgar vor einer Eisdiele. Edgar hat Albione, die Tochter der beiden, auf dem Schoß. Anna malt. Sie malt für mich eine Karte von München, besser gesagt: eine Karte, so wie sie München im Kopf hat . Eine Mental Map.

Anna und Edgar wohnen seit anderthalb Monaten in München. Davor in London. Davor in Oxford. München, das ist für die beiden Milbertshofen und der Odeonsplatz. Dort arbeitet Edgar. München, das ist die U-Bahnlinie 3. München, das ist der Tierpark und Obersendling, Dort trifft sich Anna mit anderen jungen Müttern und deren Kindern. Milbertshofen - Odeonsplatz - Obersendling. Das ist ihr Bild von dieser Stadt. Das ist ein München.

Ich will wissen: Wie sieht München im Kopf der anderen aus? Also gehe ich los, durch mein München, durch den Ort, wie ich ihn kenne. Es ist der Versuch herauszufinden, was eine Stadt zu dem macht, was sie ist. Um zu sehen, wie andere München wahrnehmen, drücke ich ihnen Buntstifte und Papier in die Hand und unterhalte mich mit ihnen. Ich lasse mir ihre Geschichten erzählen - und zeichnen.

Ich beginne in Milbertshofen. Der Ort ist zufällig ausgewählt. Ich habe mich in die U-Bahn gesetzt und irgendwann beschlossen auszusteigen. Glück für mich, denn dort treffe ich Anna, Edgar und Albione. Die beiden sind Doktoren, die sich in Oxford kennengelernt haben. Er Italiener, sie aus Brandenburg. "Fast schon aus Polen", sagt sie. In München wohnen sie wegen seiner Arbeit. Beide sind Biochemiker. München gefällt ihnen. Auf ihrer Karte sieht man neben der Wohnung den Olympiapark, man sieht Biergärten und Orte, an denen man Wurst essen kann. Es ist ein neues, frisches München, das viel Raum offen lässt für Entdeckungen. Sogar die Isar fehlt.

Ich arbeite mich von Milbertshofen immer weiter nach Süden. Wandere durch Viertel, die ich nicht kenne und solche, die ich in und auswendig kenne. Es ist schwer, Leute zum Zeichnen zu überreden, wenn sie beschäftigt sind. In der Maxvorstadt treffe ich Dieter Schweiger, München kennt ihn als Didi, das Original vom Obststand an der Uni. Ob er mir sein München zeichne? Klar macht er mit. "Das hier ist mein München", sagt der 57-Jährige. Hier am Obststand, das ist sein Revier. Auch wenn er nicht dort wohnt, er lebt dort. Trifft Leute, verkauft Obst, flirtet mit Frauen. "Ich lade die Frauen hier zu meinem Stand ein", sagt Didi. Seine Wege durch München legt er mit dem Rad zurück. Zwischen seinem Wohnort Haidhausen und dem Obststand liegen rund drei Kilometer. Auf der Karte, die Didi zeichnet, sieht man sie nicht. Lediglich den Chinesischen Turm und 1860 München, seinen Verein. Das Siegestor - die Maxvorstadt - sein Obststand. Auch das ist München.

Wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, liegt daran, wo sie wohnen, welche Wege sie nutzen, wo sie sich aufhalten. In jedem Kopf entsteht so ein Bild, eine Umgebungskarte. Wir leben in einem Ausschnitt einer Stadt. Wir können unsere Umgebung nur begrenzt wahrnehmen. Also haben wir ein Bild von unserer Umgebung im Kopf, von dem wir glauben, dass es der Realität entspricht. In Wahrheit ist unser Bild schief, verzerrt, wackelig - wenn wir mit Freunden unterwegs sind, merken wir das. Wir unterhalten uns über dieselben Orte, beschreiben aber andere Wege dorthin, Plätze erscheinen unterschiedlich wichtig, Proportionen passen nicht zusammen.

Eine Karte ist ein Bild, darauf zu sehen ist die Frauenkirche, das Oktoberfest, das Hofbräuhaus. Alles München. Gemalt haben sie ein Junge und ein Mädchen im Englischen Garten. Wie sie heißen, verraten sie nicht. Er, groß, blond, und sie, ein bisschen kleiner, dunkelhaarig, haben sich gerade erst kennengelernt. Sie sind spontan ein Bier trinken gegangen. Jetzt hocken sie im Gras und zeichnen. Sie zeichnen ein gemeinsames München, ohne zu wissen, was der andere von dieser Stadt kennt. Macht nichts, denn sie kennen sich ja auch nicht.

Ein wenig später treffe ich Kenneth und Mario. Kenneth wohnt in Schwabing. Meistens wohnt sein Freund Mario bei ihm. Wenn der nicht in Fürstenfeldbruck ist, bei seiner Mutter. Wenn die beiden zusammen sind, leben sie zwischen ihrer Wohnung, dem Sendlinger Tor, dem Marienplatz und der Kaufingerstraße, die Kenneth auf seiner Mental Map gleich neben seiner Wohnung einzeichnet.

Milbertshofen, den Stadtteil, in dem Anna, Edgar und Albione leben, zeichnen sie gar nicht ein in ihre Karte. "Verbotene Zone" steht dort nur. "Da gehen wir nicht hin", sagt Kenneth. Schwabing - Sendlinger Tor - Kaufingerstraße. Das ist ein weiteres Bild dieser Stadt. Auch das ist München.

Jedes dieser verschiedenen München ist das Produkt individueller Leben, das Ergebnis aus Tausenden Erfahrungen. Innere Landkarten sind Projektionen räumlichen Wissens im Gehirn eines jeden Menschen. Und weil jedes Gehirn einzigartig ist, wird es keine zwei gleichen Karten von ein und derselben Gegend geben. Lebt jemand in Milbertshofen, wie Anna, Edgar und deren Tochter, erscheint ihm dieser Teil der Stadt wichtiger - wie auf Annas Karte. Hinter jeder Karte verstecken sich Geschichten. Aufgemalt wird nur, was zählt.

Als Kenneth seine Wohnung einzeichnet, malt er ein Herz darum. "Das ist unsere Liebeshöhle", sagt der 20-Jährige. Die Wohnung, ein Versteck vor der Welt. Doch das Zentrum der Karte, das Zentrum von seinem Leben ist sie nicht. Das ist der New York Club in der Sonnenstraße. Hier gehen die beiden feiern. Auch ein Club kann ein Versteck sein. Eines, in dem sie sich nicht verstecken müssen. Denn auch das ist München: Als schwules Paar wird man schief von der Seite angeschaut. "So aus den Augenwinkeln", sagt Mario und versucht den Blick nachzumachen. Deshalb findet man auf ihrer Münchenkarte auch die Wohnung eines Freundes. Yoni, heißt der. Dort sind sie immer. "Da gibt es Gin Tonic", sagt Kenneth. Man findet das Kraftwerk, die Isar und den besten Döner in der Stadt, der liegt irgendwo an der Müllerstraße. Auch die Uni von Mario ist eingezeichnet und die Arbeit von Kenneth. Beides aber eher am Rand der Karte - nicht so wichtig.

Weiter im Süden, an der Isar, sitzen Julia und ihre Freunde. Julia wohnt auf der Schwanthalerhöhe, sie zeichnet sie groß in ihrer Karte ein. Allerdings am Rand. München ist nicht da, wo das Zuhause ist. München ist da, wo das Leben spielt. Die Theresienwiese, eingezeichnet ist dort ein großes Bierglas. Gleich daneben ist das Glockenbachviertel, gleich daneben Bogenhausen mit dem Klinikum rechts der Isar. Es landet auf der falschen Isarseite und liegt gleich südlich des Englischen Gartens. Die Theresienwiese und die Schwanthalerhöhe trennt eine große Straße. Sie führt zur Schule, in der Julia arbeitet. Eigentlich, sagt Julia, sei die Schule weit im Norden. Auf ihrer Karte aber liegt sie gleich neben der Maxvorstadt mit dem Univiertel. Ebenfalls eingezeichnet mit einem Getränkeglas.

Alle gezeichneten Karten zeigen München. Sie zeigen eines, dass es nur in der Wirklichkeit der verschiedenen Zeichner gibt. Wenn wir in unserer Stadt unterwegs sind, nehmen wir alles unterschiedlich wahr. Es macht schon einen Unterschied, ob wir den Bus oder das Fahrrad nehmen, es macht einen Unterschied, wo wir wohnen und wie wir leben. Sicher ist nur, es gibt nicht ein München. Es gibt viele.

Und dann gibt es noch meines: Es hat die Uni als Zentrum. Wichtig ist die Schellingstraße - meine Hauptverkehrsachse. Wichtig ist die ganze Maxvorstadt, ist der Osten Münchens, ist der Englische Garten. Das ist mein München.

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Quelle:
SZ vom 21.07.2016
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