Menschen mit Behinderungen:Was bleibt, ist die Liebe

Lesezeit: 5 min

Pascale V. hat in einem Jahr alles verloren: Zuerst starb seine Frau an Krebs, dann sein Vater und seine Schwiegermutter - jetzt hofft er, anstehende Operationen zu überleben. Marlon L. ist nach einem Impfschaden behindert. Seine Lebensfreude hat er sich nicht nehmen lassen

Von Monika Maier-Albang

Nach dem Tod seiner Frau war Pascale V. verzweifelt. "Ich dachte, ich schaffe es nicht, weiterzuleben", sagt er heute. (Foto: Catherina Hess)

Gibt es sie wirklich, diese Liebe, die man aus französischen Filmen kennt? So tief, so aufopferungsvoll, den Tod überdauernd wiewohl unendlich tragisch. Natürlich, würde Pascale V. jetzt sicher sagen. Er hat so eine Liebe ja erlebt, und er erlebt sie noch immer, auch wenn seine Frau physisch nicht mehr bei ihm sein kann. In seinen Gedanken, seinen Entscheidungen, ist sie anwesend.

25 Jahre waren sie ein Paar, Pascale und Snezana. Und es war, so erzählt Pascale V., Liebe auf den ersten Blick. Zumindest auf seiner Seite. Der gebürtige Franzose, der seit mehr als 30 Jahren in München lebt, arbeitete als Koch. Sie, die lebensfrohe Frau mit den langen roten Locken, kam in das Restaurant, um dort zu putzen. V. erinnert sich: "Ich habe sie angeschaut und ihr gesagt: ,Du wirst meine Frau.'" Drei Monate später waren sie tatsächlich zusammen, auch Snezana muss von diesem stattlichen Mann mit dem schwarzen Vollbart wohl sehr schnell angetan gewesen sein.

"Mein Leben war immer entweder top oder schlecht", sagt V. heute. Eine der guten Zeiten, das war die mit ihr. Der Absturz begann, als bei seiner Ehefrau Gebärmutterkrebs diagnostiziert wurde. Acht harte Monate voller Arztbesuche, Therapien, Hoffen und Bangen. "Am Ende war sie ganz ausgezehrt." Er kümmerte sich um seine Frau. Und auch seine Schwiegermutter, mit der er sich gut verstand, sorgte für ihre Tochter, die noch ihren 50. Geburtstag feiern konnte. In der Wohnung ihrer Mutter wollte Snezana ihre letzten Tage verbringen. "Sie starb dort in meinen Armen", sagt V..

2014 war das. "Das Jahr, in dem ich alles verloren habe." Zuerst starb seine Frau, dann sein Vater, dann seine Schwiegermutter. Im Jahr drauf verlor er auch noch die Schwester. Kinder hatte das Paar nicht bekommen. "Auf einmal war ich völlig allein." Dabei hatte schon der Tod seiner Frau V. sehr aufgewühlt. "Ich habe zehn Tage neben ihrer Jacke geschlafen. Ich dachte, ich schaffe es nicht, weiterzuleben."

Jetzt wieder als Dossier

1 / 1
(Foto: SZ)

Mehr als 150 Millionen Euro hat der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung in 70 Jahren eingenommen. Ein digitales, nun wieder auf den neuesten Stand gebrachtes Dossier blickt zurück. Es erklärt, wie das Hilfswerk funktioniert und bündelt berührende Geschichten aus München und dem Umland. Verfügbar im Digitalkiosk oder unter: sz.de/sz-adventskalender

Von da an ging es Pascale V. immer schlechter. V. hatte schon zuvor Arthrose in Beinen, Händen und Schultergelenken gehabt, nun wurden die Schmerzen so groß, dass er mit Mühe stehen und kaum noch die Pfannen halten konnte. P. musste seine Arbeit aufgeben. Und er begann zu trinken. Seit vier Jahren, sagt V., sei er nun trocken, rauche auch nicht mehr. Nur das Gewicht zu halten, das gut für seinen Körper sei, falle ihm schwer. Es hat ja auch sonst noch einige Baustellen: eine schmerzhafte Schuppenflechte überzieht seine Arme. Seine Diabetes-Erkrankung hatte eine Makuladegeneration zur Folge, eine Augenerkrankung, weshalb er schlecht sieht. V. leidet unter Polyneuropathie, eine Schädigung des Nervensystems. Immer wieder hat er Anfälle, die sich anfühlten, wie wenn ein Stromschlag durch seinen Körper geschickt würde - verbunden sind sie mit Schmerzen und Zuckungen. Was ihn zudem einschränkt, sind Verwachsungen in den Händen. Die Erkrankung heißt Morbus Dupuytren; die Sehnen der Hand ziehen sich zusammen, V. kann manche Finger nicht ausstrecken und deshalb nur mit Mühe den Rollstuhl bewegen. Wenn wieder einmal der Aufzug ausfällt in dem Haus der städtischen Wohnungsgesellschaft, in dem er lebt, ist V. auf seinem Stockwerk gefangen. "Dann krieg ich Panik, würde am liebsten runterspringen."

Im nächsten Jahr stehen für Pascale V. einige Operationen an: die Hüfte, die Kniegelenke. Er will das machen lassen, wissend, dass jede Operation für ihn mit Risiken verbunden ist. "Die Ärzte sagen, ich bin eine riesige Baustelle. Und dass es sein kann, dass ich die OPs nicht überlebe." Aber die Schmerzen sind auch zu groß, um sich nicht behandeln zu lassen. Eines aber, sagt V., müsse er zuvor vollendet haben: Auf dem Grab seiner Frau fehlt noch der Grabstein. Snezana stammte aus Kladovo. Die Stadt liegt in Serbien, an der Donau, nahe des Eisernen Tores. "Wir waren oft dort, auch ich habe diese Stadt lieb gewonnen", erzählt V.. "Da laufen noch Pferde auf der Straße und die Leute haben Hühner im Garten." Seine Frau ist im Grab ihrer Familie beigesetzt. Pascale V. würde gerne hinfahren, der Grabstein ist bestellt. "550 Euro, die ich zusammengespart habe. Aber die Anreise kann ich mir nicht leisten." Wenn der Grabstein aufgestellt wird, möchte V. dabei sein. "Ein letztes Mal an ihrem Grab stehen." Er selbst möchte sich, wenn er mal stirbt, einäschern lassen. Seine Asche soll die Donau hinabschwimmen. Zu ihr.

SZ-Adventskalender

1 / 1
(Foto: SZ Grafik)

Auch zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention gibt es noch viele Barrieren, die eine Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft erschweren. Ausflüge oder auch ein Kinobesuch sind oft nicht möglich.

Die Geschichte seines Lebens kann Marlon L. nicht selbst erzählen, die Mutter tut es für ihn. Er konnte mal sprechen, aber das hat er verlernt, als er zwölf Jahre alt war. Seine Füße haben ihn schon mit sechs nicht mehr getragen. Seitdem sitzt Marlon im Rollstuhl, ein zerbrechlich wirkender Mann von 28 Jahren, mit einem Strahlen im Gesicht und aufmerksamen, lachenden Augen - seine Art, sich auszudrücken.

"Er ist ein schöner Mensch, das macht es einfacher, mit ihm zusammenzuleben", sagt Sabine L., seine Mutter. Eine Freundin ist da, sie beschäftigt sich mit Marlon, damit sie in Ruhe erzählen kann. Mitten im Wohnzimmer steht Marlons alter Hochstuhl, darin liegen unzählige bunte Plastikbälle, Marlons Trainingsplatz. Er kann die Arme noch bewegen und den Kopf, vom Oberkörper abwärts ist er gelähmt. Sehr langsam greift er nach einem Ball, den die Freundin der Mutter ihm hinhält, einen grünen glubschäugigen Flummi. Die Hand ist noch geschlossen. "Den Daumen musst du schon aufmachen, du Wursthaut", bekommt er zu hören. Wieder dieses Strahlen in seinem Gesicht. Wie in Zeitlupe öffnet sich die Hand, man merkt, dass Marlon sich konzentrieren muss, um den Ball festzuhalten. Am Ende gelingt es ihm sogar, den Ball von der Linken in die Rechte zu schieben. Erfreutes Glucksen.

Marlons Behinderung ist die Folge eines Impfschadens. Als er drei Jahre alt war, gab ihm der Kinderarzt eine Siebenfach-Impfung. "Die wird heute nicht mehr gemacht", sagt seine Mutter. "Was genau den Hirnstamm verletzt hat, weiß man nicht. Wenn wir es wüssten, würde es uns finanziell besser gehen." Eine Klage anzustreben gegen die Pharmafirmen - L. hat dies einmal erwogen, dann aber verworfen. Zu wenig Aussicht auf Erfolg. Und die Kraft, die dafür nötig wäre, braucht sie für Marlon.

Sabine L. ist alleinerziehend, hat noch eine elf Jahre alte Tochter und den behinderten Sohn, der in eine Tagesstätte geht, aber ansonsten zu Hause wohnt. "Gott sei Dank leben wir in einem Sozialstaat, der das möglich macht", sagt sie. Und trotzdem ist es hart. Vor fünf Jahren hat L. ihre Arbeit aufgegeben, um sich um die Kinder kümmern zu können. "Das ist eine Lebensentscheidung." Marlons Erkrankung ist progredient, sie schreitet also immer weiter voran. Eine "Fehlfunktion des Gehirns" sei dafür verantwortlich, dass er Dinge verlerne, die er bereits konnte, sagt die Mutter. Als Kind habe er noch darunter gelitten, habe Fragen gestellt wie: "Warum kann ich den Becher nicht mehr halten?" "Warum läuft mir Spucke aus dem Mund?" "Das ist jetzt rum ums Eck", sagt Sabine L.. Es ist, wie es ist. Seine Lebensfreude hat Marlon L. nicht verloren.

Aber es ist eben auch sehr anstrengend. Nachts muss Marlon im Bett gewendet, in der Früh gewaschen, gewickelt, angezogen werden. Sabine L. hat Personal eingestellt, macht die Lohnabrechnungen, erstellt die Dienstpläne, verhandelt mit der Krankenkasse - "das ist eine kleine Firma". Und jede Zuwendung, die Marlon bekommt, ist zeitaufwendig. Trinken beispielsweise kann er nicht einfach so, die Flüssigkeit muss ihm mit einem Löffel eingegeben werden. Zwei Stunden nimmt das Abendessen so locker in Anspruch.

"Wir schaffen das alles", sagt sie Mutter, und sie spricht von einer "Bereicherung" für ihr Leben, von den schönen Momenten mit ihm. Etwa, als sie vor der Adventszeit den Kranz in der Kirche gemeinsam gestaltet haben. "Marlon hat die Farben für die Schleifen ausgesucht. Und die Äste, die er haben wollte." Sie kann seine Augensprache ja lesen. Nur das Geld, das sie früher verdient hat, es fehlt jetzt halt. Demnächst hat sie einen Servicetermin für ihr Auto, einen VW-Bus, der behindertengerecht ausgebaut ist. Das elf Jahre alte Auto, das mehr als 200 000 Kilometer gefahren wurde, haben sie gebraucht gekauft. Nun steht eine Reparatur an. Und das Auto braucht Winterreifen. "Das kann ich mir nicht leisten", sagt Sabine L.. Marlon trägt ein Korsett, er hat einen übergroßen Rollstuhl, mit dem er in keinen Zug hinein passt. Mit dem Auto kann die Familie gemeinsame Ausflüge machen. "Ich kann nur hoffen", sagt L., "dass es noch lange fährt".

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: