Ein regnerischer Vormittag, das nasse Gras hängt dunkelgrün in den Wiesen. Den Jungwissenschaftlern auf ihren Fahrrädern scheint das nichts auszumachen. Regenjacke, Helm auf dem Kopf, Kapuze in Signalfarbe überm Rucksack, so passieren sie einer nach dem anderen die Schranke des Campus im Münchner Norden. Es sind Inder, Chinesen, Japaner, Europäer, Amerikaner und natürlich auch Deutsche - Wissenschaftler aus 70 Nationen, die am Helmholtz-Zentrum für Gesundheit und Umwelt forschen. Die besten Köpfe wolle man nach München holen, hatte der Mediziner Matthias Tschöp gesagt, als er vor Kurzem zum wissenschaftlichen Geschäftsführer des Helmholtz-Zentrums bestellt wurde.
Deshalb gibt es jetzt einen Pionier-Campus, quasi eine hauseigene Start-up-Szene. Aber auch sonst wächst das Wissenschaftszentrum an vielen Stellen, irgendwo wird immer gerade gebaut. Im Erdgeschoß eines Gebäudes mit grasgrünen Wänden installieren Techniker derzeit ein Hightech-Depot, mit extremer Raumkälte und Robotern, die Laborproben von 200 000 Patienten aus ganz Deutschland verwalten. Die haben an der NaKo-Gesundheitsstudie (NaKo steht für nationale Kohorte) teilgenommen, ihre Daten sollen der Wissenschaft helfen, die Erkennung, Vorbeugung und Behandlung von Krebs, Diabetes, Herzinfarkt und anderen Krankheiten zu verbessern.
"Darin liegt eine Riesenchance für die personalisierte Medizin", sagt Matthias Tschöp, 51. Er wartet im ersten Stock des Laborgebäudes auf den Besuch, bei den "Epis", den Epidemiologen, denn sein Büro wird gerade umgebaut. Personalisierte Medizin ist das Schlagwort der Zeit, sie soll für jeden Patienten die auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Therapie ermöglichen. Das Münchner Helmholtz-Zentrum kümmert sich vor allem um Diabetes, Allergien und chronische Lungenerkrankungen. Dafür untersuchen die Wissenschaftler das Zusammenwirken von Genetik, Umweltfaktoren und Lebensstil.
Die Helmholtz-Gemeinschaft ist die größte deutsche Forschungsgemeinschaft. 1995 gegründet, umfasst sie heute 18 wissenschaftliche Einrichtungen. Während sich etwa das Geomar-Zentrum in Kiel der Ozeanforschung widmet und sich das Heidelberger Zentrum auf die Krebsforschung spezialisiert hat, kümmern sich die Münchner Wissenschaftler vor allem um Diabetes, Allergien und Lungenerkrankungen. 2300 Menschen arbeiten auf dem Campus in Neuherberg im Münchner Norden. Patienten und Angehörige finden auf den laufend aktualisierten Online-Plattformen Informationen zu diesen Volkskrankheiten (www.helmholtz-muenchen.de). Auch gehen die Wissenschaftler in Schulen und öffentliche Einrichtungen, um über Gefahren und Vorbeugung aufzuklären.
Vorläufer des Münchner Zentrums war die Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF), gegründet 1964, in der großen Zeit der Kernenergie. Damals ging es um Fragen der Endlagerung von Atommüll und generell um die Risiken von Chemikalien in der Umwelt. Allmählich rückte die Genforschung in den Vordergrund, in den Neunzigerjahren unterhielt die GSF die weltweit größte Mausmutanten-Sammlung. Um die Jahrtausendwende wurde ein Genom-Analysezentrum gegründet. Vor zehn Jahren kam die Umbenennung in Helmholtz-Zentrum München. Zuletzt wurde die Stammzellen-Forschung ausgebaut. Namensgeber der Forschergemeinschaft ist Hermann von Helmholtz, ein Berliner Universalgelehrter des 19. Jahrhunderts, der schon damals Brücken schlug zwischen Medizin, Physik und Chemie. mse
Matthias Tschöp trinkt seinen Kaffee schwarz, "Hauptsache Koffein". Auf dem Tisch steht ein Teller mit zuckersüßen Croissants. Diabetes, die Volkskrankheit, an der jetzt schon rund zehn Prozent der Deutschen leiden, Tendenz steigend, werde immer noch zu wenig ernst genommen, sagt der Mediziner. "Aber sie kann für Patienten und Angehörige eine Tragödie bedeuten." Typ II der Krankheit ist oft mit Adipositas verbunden, mit Übergewicht, schlechter Ernährung, zu viel Zucker und Fett. Aber wie genau die Zusammenhänge im Körper funktionieren, warum der eine krank wird und der andere nicht, das ist noch nicht ausreichend erforscht.
Matthias Tschöp ist ein international anerkannter Diabetesforscher. Sein Vorgänger als Helmholtz-Chef, Günther Wess, hatte ihn vor sieben Jahren aus den USA zurückgeholt, als Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas. Zeitgleich wurde Tschöp als erster Mediziner mit einer Humboldt-Professur an den Lehrstuhl für Stoffwechselerkrankungen der Technischen Universität München berufen. Heute gehören dem Diabetes Center, das mit den beiden Münchner Unis sowie Außenstellen in Tübingen, Dresden und Leipzig zusammenarbeitet, etwa 500 Mitarbeiter an. Es ist eines der größten Diabetes-Forschungszentren weltweit.
Die süßen Teilchen auf dem Tisch bleiben unberührt. Das bedeutet nicht, dass der Diabetes-Spezialist nie zum Zucker greifen würde. Aber das Bewusstsein für gesunde Ernährung zu fördern, das gehört durchaus auch zu den Aufgaben der Wissenschaftler. "Wir essen heute viel mehr Zucker als unsere Vorfahren", sagt Tschöp. Der Überfluss an Nahrungsangeboten spielt da eine Rolle, das Fastfood, die kindliche Prägung, auch Stress - "im fünften Meeting am Tag greife ich dann auch mal zum Kuchen auf dem Tisch", gibt der Mediziner zu. Aufklärung ist wichtig, schon in Schulen, das Helmholtz-Zentrum unterstützt solche Programme. "Meine Kinder kommen jetzt nach Hause und sagen: Papa, Pommes machen wir nicht mehr, die sind ja so was von ungesund", erzählt Tschöp.
Als neuer Geschäftsführer will der Münchner die unterschiedlichen Disziplinen noch stärker vernetzen. Die Nachwuchsforscher in seinem Pionier-Campus sollen vor allem Tools und Modelle entwickeln, etwa um Organoide aus menschlichen Zellen herzustellen, als Ersatz für die Mäuseversuche. "Diese hochtalentierten Pioniere stellen einen neuen Forschertypus dar", sagt Tschöp, "eine Art Hybrid." Umgangssprache im Haus ist Englisch, alle nennen sich beim Vornamen, auch den Chef, Matthias. Es sind Ingenieure, Physiker, Informatiker, Chemiker, Biologen und Mediziner, "wir denken heute alle interdisziplinär. Man kann Probleme nicht mehr nur innerhalb einer Disziplin angehen". Der weltweite Austausch laufe ständig, "nicht täglich, sondern stündlich".
Es sind vor allem die neuen Technologien, die das möglich machen. Deshalb setzt Matthias Tschöp auch große Hoffnung auf künstliche Intelligenz. Algorithmen können eben viel schneller rechnen, Daten analysieren und verknüpfen, als das ein Mensch je könnte. "Als ich meine Doktorarbeit in der Innenstadtklinik der LMU begonnen habe, benutzten wir noch Millimeterpapier", sagt er und schmunzelt. Heute schicken sie hochaufgelöste Bilder aus dem Elektronenmikroskop in Sekundenschnelle um die Welt.
Trotzdem braucht es oft viele Jahre, bis aus einem neuen Verfahren tatsächlich eine neue Therapie hervorgeht. Die Erwartungen von Politik und Gesellschaft sind hoch. Es fließt so viel Geld in die Forschung, und dann dauert es so lange, bis sie endlich etwas gegen Krebs oder Diabetes gefunden haben? Ja, sagt Tschöp, das kann er verstehen. Doch Wissenschaft ist ein mühsames Geschäft. Oft steht man wochenlang, nächtelang, sonntagelang im Labor, und eines Tages glaubt man sich der Lösung ganz nahe zu sein, doch dann zerschlägt sich plötzlich alles und man stellt zähneknirschend fest, dass man jahrelang einem Irrweg gefolgt ist. "Dann steht man trotzdem am nächsten Morgen wieder auf und geht seine Zellen füttern", sagt der Mediziner.
Deshalb brauche es kreative Köpfe, ein gutes Forschungsumfeld - und Zeit. "Schnell mal auf Bestellung funktioniert das halt nicht", sagt Tschöp. Die Entdeckung der Crispr-Cas-Methode zum Beispiel, die jetzt in aller Munde ist, eine Methode, mit der man DNA zerschneiden und verändern kann, "die hätten wir alle gern entdeckt". Es waren aber zwei Frauen, Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna, denen der Durchbruch gelang. "Wenn die in einem Umfeld gearbeitet hätten, wo sie gedrängt worden wären, unmittelbar ein neues Medikament zu liefern, hätte es nicht funktioniert."
Oder der Franzose Roger Guillemin, er hat den Nobelpreis für die Entdeckung eines Peptidhormons im Gehirn gewonnen. "Er hat jahrelang gegen alle Widerstände in seinem Umfeld über eine Million Schafhirne zerschnitten, bis er irgendwann entdeckt hat, dass das Gehirn Hormone produziert." Man muss an sich glauben, sagt Tschöp. Diesen Optimismus hat er in den zwölf Jahren USA gelernt und geschätzt. "In Deutschland herrscht oft so eine Grundskepsis gegen neue Ideen."
Tschöp schaut auf die Uhr. Heute ist wieder so ein Tag voller Meetings. Gleich kommt eine hochrangige Delegation der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Das Helmholtz-Zentrum hat ein Büro in Peking, die Chinesen seien ein "extrem wichtiger Partner", sie würden Milliarden in künstliche Intelligenz investieren, wollen ein nationales Medizinforschungszentrum aufbauen - und sie setzen auf die Erfahrung der Deutschen.
Als er vor sieben Jahren mit seiner Familie in die Heimatstadt München zurückkehrte, sagt Tschöp, da sei er richtig froh gewesen. Er hat jetzt eine Dauerkarte für den FC Bayern. Von seinem Büro aus blickt er gen Osten auf die Arena. Und gen Süden auf die Alpen. Jahrelang war er als junger Münchner Arzt bei der Bergwacht. Die Gipfel sind jetzt nur noch einen Katzensprung entfernt. Und auf dem Campus ist die ganze Welt zu Hause.