Süddeutsche Zeitung

Meine Woche:Hilfe beim Abschiednehmen

Martin Stählin ist Bordseelsorger und leitet ein Trauercafé. Und er hofft, dass bald wieder pesönliche Gespräche möglich sind. Denn derzeit finden nur virtuelle Unterhaltungen statt

Von Simon Garschhammer

Urlaubspfarrer" wird Martin Stählin () auch genannt. Als ehrenamtlicher Bordseelsorger begleitet der evangelische Pfarrer im Ruhestand Menschen auf Kreuzfahrtschiffen. Allzu lange will der 72-Jährige die Reisestrapazen aber nicht mehr auf sich nehmen. Doch langweilig dürfte es dem umtriebigen Mann nicht werden, seit diesem Jahr füllt er bereits ein neues Ehrenamt aus: die Leitung des "Cafés für die Seele".

Das Trauercafé des Evangelischen Bildungswerks München begreift sich als Treffpunkt für Menschen, die Abschied nehmen mussten, aber auch als Netzwerk. Zusammen mit der langjährigen Leiterin Iris Geyer führt Martin Stählin nun das Café, einmal im Monat treffen sich Ehrenamtliche, Mitarbeiter und Trauernde, um sich gegenseitig zu unterstützen.

In seiner Tätigkeit als Pfarrer habe er viel zu wenig Zeit gehabt, sich um trauernde Menschen zu kümmern, so Stählin. In den Gemeinden sei er zu sehr mit Bürokratie und Organisation beschäftigt gewesen. "Ich bin den Menschen, mit denen ich am Grab stand, etwas schuldig geblieben." Oft habe er sich gedacht, dass der Mann so um seinen Sohn trauere, "spätestens nach acht Wochen rufst du ihn an". Doch oft sei er nicht dazu gekommen. "Es ist, als wollte ich eine Schuld abtragen", antwortet er auf die Frage, warum er im Café für die Seele mitwirken wollte.

Wegen Corona sind die Treffen derzeit nur per Livestream möglich. In einem virtuellen Raum werden Vorträge gehalten, Fragen gestellt und Unterhaltungen geführt, um füreinander da zu sein. Doch nicht gemeinsam an Ort und Stelle, sondern jeder vor seinem eigenen Bildschirm. "Ich fühle mich in der Gruppe geborgen, aber man fühlt sich momentan auch allein", spricht eine Teilnehmerin ins Mikrofon. Eine andere Frau ist nur per Telefon zugeschaltet, für mehr reicht die technische Infrastruktur nicht aus. Doch nicht nur die Technik stellt für die oft älteren Menschen eine Hürde dar, auch die Nähe gehe dadurch verloren. "Ich glaube nicht, dass sich jemand virtuell so öffnen kann, dass ein gutes Gespräch zustande kommt", sagt ein ehrenamtlicher Mitarbeiter. Auch Martin Stählin klagt: "Es ist so wichtig, die Atmosphäre zu spüren, die jemand ausstrahlt, das geht aktuell nur bedingt."

Doch den Elan lässt sich Stählin dadurch nicht nehmen. Er hofft auf ein baldiges Ende der Einschränkungen und sieht positiv ins neue Jahr. Weniger ein Programm, mehr eine innere Grundeinstellung will er in das Café mitbringen. Mit seiner eigenen Offenheit möchte er die Menschen ermutigen, Trauer zuzulassen. Wenn jemand seine Trauer verdrängt, könne das schlimme Folgen haben: Depressionen, Suchterkrankung und sogar Suizid, sagt Martin Stählin. "Trauer muss gelebt werden, durchlebt werden. Abschied tut weh, aber ich muss ihn ertragen und gestalten, und irgendwann kann ich wieder lachen."

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Quelle:
SZ vom 08.02.2021
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