Literatur:Netzwerk mit Nähe

Literatur: Wie lässt sich ein lyrisches Ich am besten auf die Bühne bringen? Hier ein Bild aus dem Jahr 2014; Charlotte Warsen liest vor dem künstlerischen Hintergrund von Johannes Tassilo Walter.

Wie lässt sich ein lyrisches Ich am besten auf die Bühne bringen? Hier ein Bild aus dem Jahr 2014; Charlotte Warsen liest vor dem künstlerischen Hintergrund von Johannes Tassilo Walter.

(Foto: Tillmann Severin)

Die Reihe "Meine drei lyrischen Ichs" feiert Zehnjähriges - mit einem Dichterfest im Kunstverein.

Von Antje Weber

Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Eine immer wieder gute, aber schwierige Frage. Die Reihe "Meine drei lyrischen Ichs" beantwortet sie seit zehn Jahren auf eigene Weise: In drei Veranstaltungen pro Jahr - wenn nicht gerade Pandemie ist - treten hier stets drei Dichterinnen oder Dichter auf. Schon lange gesellt sich noch ein künstlerisches Ich dazu, das Installationen, Bilder, Videos oder Performances beisteuert. Eigentlich müsste man den Titel dieser Reihe also längst erweitern, doch einen zweiten "quälend langen Namensfindungs-Abend" wollten sich die lyrischen und künstlerischen Ichs offensichtlich ersparen.

Nachzulesen ist die Geschichte der Namensfindung in einem 250-seitigen Katalog, der zum zehnjährigen Bestehen der Reihe erscheint. Ziemlich viel Selbstbewusstsein, nach gut 30 Veranstaltungen des flüchtigen gesprochenen Wortes samt Kunst einen dicken Band für die Ewigkeit rauszuhauen? Daran fehlte es den Organisatoren, zu Beginn Tristan Marquardt und Walter Fabian Schmid, von Anfang an offensichtlich nicht, wie in einem Grußwort des Kulturreferenten Anton Biebl zu erfahren ist. Denn als die Lyriker im Jahr 2012 um Förderung des Kulturreferats nachsuchten, wurden sie gebeten, "die veranschlagten Kosten etwas zu senken". Die Antwort der beiden, so Biebl, sei "so entgegenkommend wie selbstbewusst" gewesen: "Sie hätten sich eingehend Gedanken gemacht, keinesfalls solle die Qualität der Veranstaltung leiden, bei Anzahl und Honorierung der Künstlerinnen und Künstler wolle man nicht sparen, auch die Eintritte für das überwiegend junge Publikum nicht erhöhen. Aber man könne den auswärtigen Gästen gerne die eigenen Wohnungen überlassen und bei Freunden unterschlupfen..." Im Kulturreferat war man entwaffnet, gewährte die Mittel ohne Abstriche und zieht nun das Fazit: "Gut investiert war das Geld allemal, denn die kulturellen Zinsen und Zinseszinsen sind heute kaum zu ermessen."

Literatur: Die vier lyrischen Orga-Ichs: Daniel Bayerstorfer, Tristan Marquardt, Nora Zapf und Annalena Roters (von links).

Die vier lyrischen Orga-Ichs: Daniel Bayerstorfer, Tristan Marquardt, Nora Zapf und Annalena Roters (von links).

(Foto: Mario Steigerwald)

Dem lässt sich nicht widersprechen, denn dem Organisationsteam - zu dem inzwischen neben Marquardt die Lyrikerin Nora Zapf, der Lyriker Daniel Bayerstorfer sowie die Kunstwissenschaftlerin Annalena Roters zählen - samt einem stetig gewachsenen Netzwerk hat die junge und nicht mehr ganz so junge Münchner Lyrik- und Kunstszene tatsächlich einiges an Schwung zu verdanken. Gipfel des "Austauschprogramms" (Zapf) waren Events wie zwei "Große Tage der jungen Münchner Literatur", auch an einem Netzwerk unabhängiger Lesereihen in Deutschland knüpft man emsig mit.

Literatur: Liest beim Jubiläums-Fest: Ekaterina Derisheva, aus der Ukraine geflüchtet und derzeit in Feldafing lebend.

Liest beim Jubiläums-Fest: Ekaterina Derisheva, aus der Ukraine geflüchtet und derzeit in Feldafing lebend.

(Foto: privat)

Bei einem Jubiläumsfest im Kunstverein, wo die Reihe nach mehreren Ortswechseln vor vier Jahren angedockt hat, sollen nun die Qualitäten des lyrischen Ich-Konzepts einmal mehr sichtbar werden. Die Auswahl der Gäste ist so fein wie großzügig, denn zur Feier des Abends werden mehr als nur drei Lyrik-Ichs lesen, von denen üblicherweise zwei von auswärts anreisen. Erwartet werden diesmal statt dessen Beiträge von Max Czollek, Tim Holland und Caca Savić aus Berlin, Xoşewîst aus Leipzig, Ekaterina Derisheva aus Charkiw, derzeit in Feldafing lebend, Sirka Elspaß aus Wien sowie Dagmara Kraus aus Hildesheim. Aus München sind Pega Mund, Slata Roschal und Theresa Seraphin dabei sowie der diesmal für die Kunst zuständige Dokumentarfilmer und Videokünstler Mathias R. Zausinger.

Das klingt nach einer guten Gelegenheit, um Kultur als "soziale Praxis" zu leben, wie Marquardt gern betont. Wie heißt es passend in einem Gedicht der Lyrikerin Daniela Seel im Katalog: "distanz gewinnen, eine bewegung, /die nur in der zeit existiert, nicht im raum." Nun heißt es also wieder Nähe im Raum suchen - oder sich der unsozialen, jedoch ebenfalls inspirierenden Lektüre des Buches widmen. Autorinnen und Autoren von Martina Hefter bis Tobias Roth haben Gedichte beigetragen, es gibt also "gleich mehrere Granitblöcke großartiger Lyrik". So urteilen die Organisatoren im Vorwort und merken in aller Bescheidenheit an: "Die Gedichte sind chronologisch geordnet und durch die Bank: super."

Meine drei lyrischen Ichs, Jubiläumsfest, Do., 21. Juli, 19 Uhr, Kunstverein München, Galeriestr. 4, Eintritt frei

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