Christine Fertig macht ihre Facharztausbildung zur Allgemeinmedizinerin. Die 32-Jährige kann sich vorstellen, später einmal als Hausärztin in einem ländlichen Gebiet zu arbeiten. Nicht als Einzelkämpferin, sondern eher in einer Gemeinschaftspraxis mit Kollegen. Sie schätzt an dem Beruf, dass man als Hausarzt auch Ansprechpartner und Vertrauensmensch für die Patienten ist.
Maximilian Gradel hat sich auch für die Allgemeinmedizin entschieden. Obwohl der 27-Jährige das anfangs im Studium nicht vorgehabt hatte. Doch als Hausarzt sei man nah dran am Menschen, habe einen intensiven persönlichen Kontakt und begleite die Patienten auch über lange Zeiträume. Ob er sich einmal mit einer Praxis niederlassen möchte, weiß er noch nicht. Gradel ist aber überzeugt davon, dass man die praktische Arbeit als Hausarzt auch mit der Wissenschaft verbinden kann. "Allgemeinmedizin ist keine Kräuterkunde, sondern eine evidenzbasierte Medizin wie andere Fachrichtungen auch", sagt der Mediziner.
Christine Fertig und Maximilian Gradel sind zwei von fünf Teilnehmern, die an einem neuen Projekt der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) teilnehmen, das "Hausarzt 360"-Grad heißt und in dieser Form wohl bisher einmalig ist.
In vielen Regionen Deutschlands fehlen Hausärzte, Praxen stehen leer und auch im Großraum München sind Allgemeinmediziner zum Teil so überlaufen, dass man lange auf einen Termin warten muss oder keine neuen Patienten mehr aufgenommen werden. Das sind nur einige Herausforderungen der hausärztlichen Versorgung, die in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung gewinnen werden. Aber wie lässt sich die Situation verbessern? Und wie muss sich die Allgemeinmedizin in Zukunft entwickeln? Das sind Fragen, mit denen sich junge Mediziner auseinandersetzen sollten, fordert Jochen Gensichen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der LMU. Daher hat der Professor gemeinsam mit seiner Kollegin Caroline Jung-Sievers das Projekt entwickelt.
Damit künftige Hausärzte auch das Wissen und die Fähigkeiten haben, ihren Fachbereich voranzubringen, nach Lösungen zu suchen, ihre Forderungen politisch einzubringen, wissenschaftliche Analysen zu erstellen, sich Gedanken über die Qualifizierung zu machen, leitet Gensichen seit November das Projekt, an dem auch Fertig und Gradel teilnehmen. "Den Landärztemangel werden wir damit nicht lösen", sagt Gensichen. "Aber die jungen Mediziner werden sich Gedanken über den Landärztemangel machen."
Und darum geht es. Den angehenden Hausärzten Instrumente an die Hand zu geben, damit sie sich später für ihren Fachbereich und damit letztlich auch für die Gesellschaft einsetzen können. Es gehe auch darum, einen Schritt vom Alltagsgeschäft des Hausarztes zurückzutreten und mit einem 360-Grad-Blick darauf zu schauen und darüber nachzudenken, wie man die Situation verändern und verbessern könnte, sagt Gensichen.
Und das könne nun einmal niemand besser als ein Hausarzt selbst. "Die Fragen, wie sich der Fachbereich in Zukunft entwickeln soll, können nicht abstrakt und nicht am Computer gelöst werden." Nur ein Allgemeinmediziner, der auch Patienten betreut, der weiß, was es bedeutet, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, was es bedeutet, sie zu untersuchen, ihnen gegenüberzusitzen, könne auch Lösungen und Zukunftskonzepte für Hausärzte entwickeln.
Die fünf teilnehmenden Assistenzärzte absolvieren dabei ihre fünfjährige Ausbildung zum Hausarzt an der LMU. Drei Jahre durchlaufen sie verschiedene Stationen in der Klinik, bevor sie zwei Jahre in der Praxis eines Hausarztes arbeiten. Während der Zeit nehmen sie regelmäßig an Seminaren teil, in denen sie zusammen am LMU-Center for Leadership and People Management trainiert werden. Das Programm biete ihnen die Möglichkeit, ihre Arbeit auch zu reflektieren. Das sei sonst im Klinikalltag kaum möglich, sagt Christine Fertig, die derzeit für sechs Monate auf der kardiologischen Station arbeitet.
"Es ist wichtig, nicht nur Ärzte für die Kliniken auszubilden"
Insgesamt etwa 90 Teilnehmer hatten sich für das Programm beworben. Von denen hätten sie exzellente und besonders engagierte und motivierte Mediziner ausgewählt, sagt Caroline Jung-Sievers. Ihr Ziel sei, dass die Hausärzte später praktisch arbeiten, sich darüber hinaus aber noch einbringen. Sie könnten beispielsweise in der Landesärztekammer Standards und Qualifizierungsprogramme weiterentwickeln und sich mit der Frage auseinandersetzen, was ein Hausarzt lernen sollte.
Beim Hausärzteverband könnten sie untersuchen, welche regionalen Initiativen möglich sind, um dem Ärztemangel entgegenzuwirken. In der Wissenschaft könnten sie Forschungsprojekte voranbringen. "Es ist wichtig, an der Uniklinik nicht nur Ärzte für die Kliniken auszubilden", sagt Gensichen, "sondern auch für die ambulante Versorgung." Gensichen und Jung-Sievers hoffen, dass das Projekt in Zukunft noch weiter ausgebaut werden kann.
Maximilian Gradel arbeitet gerade für sechs Monate in der chirurgischen Notaufnahme. Der Mediziner ist bereits berufspolitisch tätig, er möchte auch künftig den Ruf der Allgemeinmedizin als akademische Fachrichtung stärken. Ihm und Christine Fertig ist es wichtig, dass die Strukturen für Hausärzte verbessert werden. "Damit man als Hausarzt auf dem Land nicht allein auf weiter Flur ist", sagt Fertig.