Süddeutsche Zeitung

Medizin:In den Münchner Krankenhäusern fehlt die Zeit für die Menschen

37 000 Patienten landen pro Jahr in der Notaufnahme des Klinikums Bogenhausen - Tendenz steigend. Die Ärzte und Pfleger arbeiten längst an der Belastungsgrenze.

Reportage von Inga Rahmsdorf

Birgit Hussar ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Vor ihr am Empfangstresen steht ein Mann mit verätzter Haut an den Beinen, ein Arbeitsunfall. Links sitzt eine Patientin, die laut schimpft. Sie habe Fieber, es gehe ihr so schlecht, warum das nicht schneller gehe. "Einen kleinen Moment bitte", sagt Hussar freundlich zu dem Mann mit den verätzten Beinen, zu der schimpfenden Frau und zu den beiden Rettungsassistenten, die eine Liege mit einem Verletzten durch die Glastür schieben.

Hussar ist allein am Empfang. Das Telefon klingelt, viele Stühle im Wartebereich sind besetzt, im Flur stehen fünf Betten mit Patienten, ein weiterer Krankenwagen fährt draußen vor, während ein Mann mit verbundener Hand nach einer Schmerztablette fragt. Es ist ein ganz normaler Tag in der Notaufnahme des städtischen Klinikums Bogenhausen.

Birgit Hussar ist Krankenpflegerin. Ihre Ausbildung hat sie vor mehr als 40 Jahren begonnen, als sie noch offiziell Krankenschwester hieß. Heute leitet sie das Team der Krankenpfleger im Notfallzentrum Bogenhausen. Hussar liebt ihre Arbeit. Sie könne sich keinen schöneren Beruf vorstellen, sagt sie. Er sei abwechslungsreich, nah dran an den Menschen, man könne eigenverantwortlich arbeiten und sie habe ein tolles Team. Aber sie sagt auch, dass die Arbeitssituation immer schwieriger werde und der Druck zunehme.

Notaufnahmen sind die durchlässigsten Schnittstellen zwischen Stadt und Klinik. Es kann jeden treffen, hier einmal zu landen. 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche kommen Menschen durch die Glastür, laufend, sitzend oder liegend. Hussar empfängt Männer und Frauen mit Bagatellen, die nicht auf einen Termin beim Hausarzt warten wollen. Sie nimmt Patienten auf, die schwerst krank oder verletzt sind. Rettungsassistenten bringen ältere Menschen zu ihr, die dehydriert sind und schon sehr lang alleine in ihrer Wohnung lagen. Sie bringen Patienten, die in Lebensgefahr schweben, die einen schweren Unfall oder Schlaganfall hatten und bei denen jede Sekunde zählt.

Ein Krankenwagen mit Blaulicht fährt vor, zwei Rettungsassistenten und eine Notärztin eilen mit einer Liege, auf der ein Mann liegt, durch die Glastür. "Stroke schon angemeldet?", fragt die Notärztin. "Ja, ihr könnt durchfahren", sagt Hussar. Es ist ein Notfall, der Patient wird umgehend in den Schockraum gebracht. Hussar nimmt den Telefonhörer und meldet die Notaufnahme ab. Es ist alles belegt. Das Notfallzentrum Bogenhausen ist eines der größten in München. 37 000 Patienten werden hier im Jahr von hoch spezialisierten Medizinern rund um die Uhr versorgt. Tendenz steigend.

Die wachsende Einwohnerzahl Münchens und die alternde Gesellschaft spiegeln sich auch im Alltag der Kliniken wider. Besonders betroffen sind die Notaufnahmen. Ebenso wie die Kinderkliniken gehören auch sie zu den Abteilungen, die auf dem Internetportal der Leitstelle Ivena häufig auf Rot schalten. Damit signalisieren sie, dass sie eigentlich keine Patienten mehr aufnehmen können. Weil alle Betten belegt sind. Oder oft auch, weil schlichtweg Pfleger fehlen, um alle freien Betten belegen zu können.

Wobei die Bezeichnung abmelden nicht korrekt sei, sagt Christoph Dodt, Chefarzt des Notfallzentrums Bogenhausen. "Wir sind immer aufnahmebereit für Schwerstkranke", so der Professor. Schalte seine Klinik bei Ivena auf Rot, bedeute das, dass Patienten möglicherweise in anderen Krankenhäusern besser versorgt werden könnten, weil die Kapazitäten bei ihm in der Notaufnahme fast erschöpft seien. Dodt ist es wichtig zu betonen, dass er und seine Kollegen immer noch ein freies Bett für Notfälle hätten. Niemand werde weggeschickt und jeder Patient werde professionell versorgt. Schließlich habe das städtische Klinikum auch einen Versorgungsauftrag.

In seinem weißen Kittel eilt Dodt durch den Flur, von einem Untersuchungszimmer in den Schockraum. Von dort geht es weiter auf die Intensivstation. Danach kurzer Blick auf den Computerbildschirm. Welcher Patient ist als nächstes dran? Wobei nicht die Reihenfolge zählt, sondern die Dringlichkeit. "Was kann ich für Sie tun?", fragt er eine Frau, die auf einer Untersuchungsliege wartet. Die 50-Jährige hatte vor Jahren einen Schlaganfall, nun hat sie erneut Taubheitsgefühle und Schwindel.

"Wir haben ein sehr engagiertes und hoch motiviertes Team", sagt Linda Herrmann. Die Krankenpflegerin ist Hussars Kollegin und stellvertretende Stationsleiterin. Sie trägt einen grünen Kittel und strahlt trotz des Gewusels und der ständig neu eintreffenden Patienten große Gelassenheit aus, scherzt mit Patienten, erklärt ruhig einer jüngeren Kollegin ein Medikament und bringt einem Mann, dem Blut aus seinem Kopfverband tropft, einen neuen Kältebeutel. Herrmann arbeitet seit mehr als 25 Jahren in Bogenhausen, und sie lässt sich so schnell durch nichts erschüttern.

Doch sie macht sich Sorgen um ihre Kolleginnen und um die Patienten. "Unser Team arbeitet häufig bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus", sagt sie. Steigende Patientenzahlen, immer älter werdende Menschen, vermehrt administrative Aufgaben, Personalmangel, und das alles bei einer geringen Bezahlung. "Das führt zu Frustrationen, weil man den Beruf nicht mehr so ausüben kann, wie man sich das eigentlich wünscht", sagt sie. Neben all der medizinischen Versorgung gehöre schließlich auch die menschliche Zuwendung dazu. Dem Patienten mal über die Wange zu streicheln, ihm Mut zuzusprechen. Doch am Ende bleibe oft zu wenig Zeit für die Menschen, und viele Kolleginnen seien ausgebrannt. Das sagen nicht nur Linda Herrmann und Birgit Hussar.

Deutschlandweit haben Krankenhäuser Probleme, ausreichend Personal zu finden. In München verschärfen die hohen Lebenshaltungskosten noch die Situation. Alle Kliniken kämpfen nicht nur darum, im In- und Ausland Pfleger zu rekrutieren, sondern auch darum, die Mitarbeiter zu halten. Denn viele Krankenpfleger schmeißen nach kurzer Zeit hin, ziehen aus München weg oder wechseln in andere Branchen, in denen es keine Nachtschichten, keine Sonntagsdienste und keinen Dauerstress gibt, dafür aber eine bessere Bezahlung. "Wir sind da noch reingewachsen. In die steigenden Patientenzahlen und den zunehmenden Druck", sagt Hussar. Aber viele jüngere Kollegen würden sich fragen, ob sie sich das bis zur Rente antun wollen.

Hussar nimmt ein Klemmbrett mit Zetteln und geht zu einem der Patienten, den zwei Rettungsassistenten gebracht haben. Er hatte einen Fahrradunfall, ist aber noch ansprechbar. "Grüß Gott, ich bin die Schwester Birgit", sagt Hussar. Sie muss innerhalb weniger Minuten entscheiden, wie dringend der Fall ist. Wer sofort einen Arzt sehen muss, wer innerhalb der nächsten zehn Minuten, und wer auch noch ein, zwei Stunden warten kann. Ist Ihnen schwindelig? Nehmen Sie Blutverdünner? Ruhig fragt Hussar den Patienten und macht sich Notizen. Es sind nicht nur die Fragen, die ihr bei der Ersteinschätzung helfen, sondern auch ihre Menschenkenntnis und ihre jahrelange Erfahrung.

Sie sieht meist sofort, wie es einem Patienten geht, ob er ungewöhnlich grau im Gesicht ist, ob er komisch reagiert. Auch ein Patient, der zu Fuß durch die Tür spaziert, könnte ein akuter Fall sein. Und ein Wespenstich kann eine Bagatelle, aber auch lebensgefährlich sein. Muss ein Patient wiederbelebt oder beatmet werden, gilt er als Dringlichkeitsstufe eins und wird sofort in den Akutbereich gebracht. 55 Prozent der Patienten, die in die Notaufnahme kommen, seien so krank, dass sie stationär aufgenommen werden, sagt Chefarzt Dodt. Und jeder zehnte Patient, der zu Fuß komme, sei so schwer krank, dass er ein Überwachungsbett brauche.

Als Hussar fertig ist, geht sie zum Computer und tippt die Informationen ein. Die sind wichtig für die weitere Behandlung durch die Ärzte. Dann wendet sich Hussar den nächsten Patienten zu, die am Empfangstresen warten. Tagsüber erhalten sie und ihre Kolleginnen Unterstützung von einer Mitarbeiterin aus der Verwaltung, die in einem Nebenraum sitzt und bei der Aufnahme der Daten hilft. Doch von 19 Uhr abends bis 7 Uhr morgens ist die Verwaltung nicht besetzt. Dann müssen die Krankenpflegerinnen neben all den medizinischen und pflegerischen Aufgaben auch noch die Aufnahmeformalitäten erledigen. Und in Notaufnahmen herrscht auch nachts Hochbetrieb.

Auch wenn Linda Herrmann seit Jahrzehnten als Krankenpflegerin arbeitet, liegt sie manchmal nachts im Bett und fragt sich, ob sie wirklich an alles gedacht hat. Oder ob sie heute vielleicht einen Augenblick mal nicht hundertprozentig aufmerksam war. Und bei all den pausenlosen Aufgaben nicht vielleicht doch etwas Wichtiges übersehen haben könnte.

Experten suchen Rezepte

München hat eigentlich eine hervorragende medizinische Versorgung. Mehr als 50 Kliniken im Stadtgebiet behandeln Patienten. Viele der Krankenhäuser können sich zu den besten in Deutschland oder sogar weltweit zählen. Patienten reisen von weither an, um sich behandeln zu lassen, gerade bei komplizierten Operationen und schweren oder seltenen Krankheiten. Allein in den vier Notaufnahmen des städtischen Klinikums werden eigenen Angaben zufolge jedes Jahr etwa 170 000 Menschen versorgt, das entspricht etwa 40 Prozent aller Notfälle in München. Trotzdem sprechen Ärzte, Pfleger und Politiker mittlerweile von einem medizinischen Versorgungsnotstand in München. Viele Krankenhäuser schließen Betten oder ganze Abteilungen, weil ihnen Pflegepersonal fehlt. Es kommt vor, dass Patienten in Kliniken in andere Landkreise gebracht werden müssen, weil es keine freien Kapazitäten mehr in München gibt. Besonders häufig müssen sich die Kinderkliniken, Notaufnahmen und Geburtsabteilungen abmelden.

Am heutigen Mittwoch lädt der Ärztliche Kreis- und Bezirksverband München (ÄKBV) zu einer Diskussion zu dem Thema "Notfall Pflege" ein. Dabei sollen Lösungsansätze für München diskutiert werden. Auf dem Podium sitzen der Staatssekretär und Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, die Generaloberin der Schwesternschaft München vom Bayerischen Roten Kreuz, Edith Dürr, der Chef des städtischen Klinikums München, Axel Fischer, der Vorstandsvorsitzende des Klinikums der LMU, Karl-Walter Jauch, und die Pflegeleiterin des städtischen Klinikums Günter Milla. Die Diskussion "Notfall Pflege" findet am heutigen Mittwoch, 20. Juni, von 18 bis 21 Uhr im großen Hörsaal der Klinik für Dermatologie und Allergologie, Ludwig-Maximilian-Universität, Frauenlobstr. 9-11, statt. Eine Anmeldung unter info@aekbv.de ist erforderlich. inra

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SZ vom 20.06.2018/amm
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