Medizin:Heilen mit Schere und Atomkleber

Medizin: Franz Scherzl entschied sich nach dem Abitur gegen ein Studium und machte stattdessen eine Lehre als Orthopädiemechaniker. Heute kennt ihn nahezu jeder Handchirurg in München.

Franz Scherzl entschied sich nach dem Abitur gegen ein Studium und machte stattdessen eine Lehre als Orthopädiemechaniker. Heute kennt ihn nahezu jeder Handchirurg in München.

(Foto: Robert Haas)

Franz Scherzl bloß einen Handwerker zu nennen, würde dem Orthopädietechnikermeister nicht gerecht. Seine Kunst, Handschienen zu fertigen, ist in ganz München gefragt.

Von Thomas Kronewiter

Was der Chirurg im Operationssaal mit dem Skalpell beginnt, setzen mitunter Menschen wie Franz Scherzl fort - mit Schere, Polycarbonatplatte und Atomkleber. Scherzl bloß einen Handwerker zu nennen, würde dem Orthopädietechnikermeister nicht gerecht. Seine Kunst, beispielsweise Handschienen zu fertigen, ist in ganz München gefragt, er geht ein und aus im Perlacher wie im Pasinger Krankenhaus. Gelegentlich wird der 55-Jährige noch aus dem Operationssaal angerufen, um die orthopädische Fortsetzung einer im OP begonnenen Therapie zu besprechen. "Ich kann mit sehr einfachen Mitteln Schienen herstellen", sagt Scherzl so bescheiden wie zutreffend über eine seiner Paradedisziplinen. Bis solch ein Hilfsmittel, eine sogenannte Orthese, von Hand und individuell angepasst ist, kann es schon zwei Stunden dauern.

Man denke sich etwa den Fall einer durchtrennten Daumensehne. Das Endglied lässt sich nicht mehr knicken, nach einem Unfall mit dem Stiel eines Weinglases. Die orthopädische Behandlung beginnt schon am Tag nach dem Zusammennähen der Sehne. Eine harte Polycarbonat-Platte wird im Wasserbad bei bis zu 80 Grad Celsius weich gemacht und um Handgelenk und Unterarm gelegt. Während das Material am Körper langsam wieder aushärtet, geht es um die Feinheiten. Wie viel Bewegungsspielraum bekommt der Daumen? Haben die Finger ausreichend Luft? Reibt die Schiene an einer Stelle? Das schaut sich Spezialist Scherzl im Verlauf der nächsten Stunde immer wieder an, formt nötigenfalls einfach nach.

Medizin: Um eine Schiene herzustellen, muss zunächst eine Polycarbonat-Platte im Wasserbad weich gemacht werden.

Um eine Schiene herzustellen, muss zunächst eine Polycarbonat-Platte im Wasserbad weich gemacht werden.

(Foto: Robert Haas)

Ein Heißluftföhn macht unbefriedigend geformte Stellen wieder formbar - natürlich kein gewöhnlicher: Das Gerät heizt seinen Luftstrom auf bis zu 600 Grad Celsius auf. Ansonsten aber begnügt sich der Orthopädie-Fachmann - seine Schleifmaschine vielleicht ausgenommen - mit Hilfsmitteln, die in eine mittelgroße Box passen. Schere und Kleber, Nylonschnüre und Korsetthäkchen, Frotteeschläuche mit Fingerlingen, Federn unterschiedlicher Größe und Zugkraft, Klettverschlussmaterial zum Selbstfertigen.

Die Technik, sagt Scherzl, entwickle sich beständig weiter. Neulich, bei einem Fachkongress in Berlin, habe er Vertreter einer kleinen Giesinger Firma kennengelernt, die stellten Orthesen mittlerweile in 3-D-Drucktechnik her. Eine Herausforderung, der sich über kurz oder lang auch Scherzl stellen will mit seiner am Perlacher Pfanzeltplatz ansässigen kleinen Firma Orthoforum Orthopädietechnik. Nachteil der neuen Technik aus seiner Sicht: Die Herstellung dauere noch zu lange. Scherzl selbst bekommt seine Schiene nötigenfalls noch am Tag nach der OP fertig.

Gerade klebt er an seine eben entstehende Handgelenks-Orthese zwei Ösen an, um dadurch einen sogenannten Beugezügel zu führen. Der soll den Daumen in Beugehaltung fixieren und zugleich permanent eine Streckung gegen eine Zugkraft von 20 bis 50 Gramm erlauben, zum dauernden Üben etliche Male pro Stunde. Damit das funktioniert, wird ein handelsüblicher Korsett-Verschluss auf den Daumennagel geklebt, mit Sekunden- oder Atomkleber. Das Einfädeln der Nylonschnur, das Einhaken am Daumennagel auf der einen Seite und an einer Feder auf der anderen, ist noch verhältnismäßig einfach. Die Schnur aber auf eine Länge zu bringen, dass der Daumen zwar gebeugt, der Zug aber nicht zu stark wird, setzt Erfahrung voraus.

Bei Scherzl stehen da mehr als 1000 selbst gefertigte Schienen in gut 20 Jahren zu Buche, insgesamt mehr als 35 Jahre Praxis in der Orthopädietechnik. Denn nach dem Abitur am Markt Schwabener Gymnasium entschied er sich gegen ein Studium der Umwelttechnik, weil er einen Schreibtischjob fürchtete. Stattdessen begann er eine Lehre als Orthopädiemechaniker, das war "etwas Greifbares und Praktisches". Trotz verkürzter Lehrzeit wegen seines Abiturs schloss er als Jahrgangsbester und Kammersieger ab. Von April 1988 an, zunächst angestellt bei der Firma Gottinger an der Einsteinstraße und damit direkt gegenüber dem Klinikum rechts der Isar, begann eine fruchtbare Zusammenarbeit mit handchirurgischen Abteilungen mehrerer Krankenhäuser, Reha-Kliniken und den entsprechenden Professoren. "Ich interessierte mich für das Thema und war nach einiger Zeit Ansprechpartner für den Bereich Handschienen", sagt er.

Medizin: Später kommt auch noch eine Schleifmaschine zum Einsatz.

Später kommt auch noch eine Schleifmaschine zum Einsatz.

(Foto: Robert Haas)

Das Befestigen von Klettverschlüssen, um die Schiene auch einmal ablegen zu können, ist da regelrecht Kleinkram. Sechs Wochen lang wird der Patient nun den Daumen nur strecken dürfen, um die Sehne in ihren Fächern gleiten zu lassen und Gewebeverklebungen zu verhindern, ohne den Daumen gleich zu überlasten. Sechs Wochen, in denen Franz Scherzl mehrfach nachjustiert und sich vom rechten Funktionieren seiner Schiene überzeugt. Dazwischen sind gegebenenfalls die betreuenden Ärzte wieder dran, begleitend auch speziell ausgebildete Physiotherapeuten. Das Zusammenspiel zwischen den Fachleuten - vom Chirurgen zum Techniker zum Therapeuten - ist für Franz Scherzl das Wesentliche bei einer erfolgreichen Therapie.

Gelangweilt hat Scherzl seine Profession nie. "Das ist ein Beruf mit Zukunft", sagt er und blickt allein in den Jahrzehnten, die er selbst überblickt, auf enormen medizinischen Fortschritt und sich ständig anpassende Betätigungsfelder zurück. Habe er früher viel mehr Beinprothesen gemacht, stünden jetzt Orthesen für die Nachbehandlung im Vordergrund. "Facharbeitermangel gibt es auch bei uns", räumt Scherzl ein. Orthopädietechniker seien gesucht und umworben. "Und fürs Handwerk kann man ganz ordentlich verdienen", gibt er gerne zu. Mit der Industrie könne man jedoch nicht mithalten.

Über mangelndes Interesse in der Ärzteschaft an seiner Kunst kann sich Franz Scherzl nicht beklagen. Ein niedergelassener Chirurg aus dem Großraum München, der seine Arbeit erst über eine von Franz Scherzls Schienen an einem Patienten kennenlernte, hat sich den Kontakt jedenfalls gleich notiert: "Falls wir mal einen schwierigen Fall haben."

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