Hohe Decken, weiße Wände, Sonnenlicht fällt durch die Fensterfront auf den Boden. Der Oberpräparator Alfred Riepertinger steht nicht etwa in einem modernen Empfangssaal, sondern mitten in einem Sektionssaal, in dem Leichen obduziert werden. An einer Wand über seinem Kopf ist der Spruch "Mortui vivos docent" angebracht. "Die Toten lehren die Lebenden", kommt die Übersetzung prompt aus Riepertingers Mund. Passender Satz für diesen Ort, schließlich beugen sich hier die Lebenden über die Toten, um mehr über sie zu erfahren.
Damals, in den Jahren 1906 und 1907, als das Pathologische Institut am Städtischen Krankenhaus München Schwabing erbaut wurde, stand den Toten dieser ästhetisch gestaltete Ort zu. Heute kämpft Rierpertinger darum, dass das Institut als Museum erhalten bleibt. "Das ist Geschichte pur", sagt er.
Hier hat der Arzt und Pathologe Siegfried Oberndorfer das Institut geleitet, vom Beginn im Jahr 1910 bis zum abrupten Ende 1933 - zumindest für Oberndorfer, der als Jude von den Nazis entlassen wurde und in die Türkei geflohen war. Der Arzt hat leidenschaftlich gesammelt: Skelette und Organe, präpariert und dokumentiert. Lebern über Herzen und Knochen - sie alle erzählen etwas über ein bestimmtes Leiden, und helfen den Ärzten, besser zu verstehen und zu heilen.
Oberpräparator Alfred Riepertinger, der 1975 als Zivildienstleistender hierher kam, fand die Sammlung vor und erweiterte sie in den mehr als 40 Jahren, in denen er hier als Präparator tätig war. Hinzu kommen Präparate, die er von anderen Instituten eingesammelt hat, etwa totgeborene Kinder mit starken Missbildungen, die in einer gelblichen Flüssigkeit schwimmen. Sie kamen vom Anatomieinstitut, als es umgebaut wurde, erzählt Riepertinger.
Viel Herzblut steckt hier drin
Auch vom Uniklinikum befinden sich einige Präparate in der Sammlung, wie das Skelett von Joseph Huber, bekannt als "Finessensepperl". Der nur 1,50 Meter kleine Mann hat im 18. Jahrhundert den Leuten Liebesbriefe zugestellt und ist so recht bekannt geworden: Sein steinernes Konterfei ist an einer Ecke am Karlstor angebracht. Daneben steht übrigens das Skelett vom "Riesen vom Tegernsee", der 2,35 Meter hoch geworden ist.
Den Hauptteil der Sammlung machen jedoch die vielen präparierten Organe aus, die Riepertinger akkurat in teilweise selbstgebauten Vitrinen neben- und übereinander angeordnet hat, alle mit Titel und Beschriftung versehen, teilweise mit Fotografien der Patienten daneben. Viele Jahre Herzblut steckt hier drin, das spürt man spätestens, wenn Riepertinger vor einer Vitrine von "meine Lebern" spricht. Da ist zum Beispiel eine eingedrückte Leber, daneben ist das Bild einer Frau in einem offensichtlich viel zu engem Korsett, das ihr jahrelang ins Organ gedrückt hat und es sogar verformt hat.
Obskuritäten und Besonderheiten finden sich hier, aber vor allem schlicht die Sichtbarmachung eines medizinischen Wissensdursts, der die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts gepackt hatte. Und über all dem steht die Hochachtung: "Sie betreten hier eigentlich einen kleinen Friedhof, hier werden so viele Schicksale sichtbar", sagt Riepertinger. Aus etwa 3000 Präparaten besteht die Sammlung, etwa die Hälfte ist ausgestellt im Keller des Gebäudes, die andere ist in Asservatenräumen untergebracht.
"Das soll kein Gruselkabinett werden"
Zu sehen für die Öffentlichkeit ist normalerweise nichts davon. Nur zu bestimmten Veranstaltungen, beispielsweise von der Volkshochschule oder beim Tag des offenen Denkmals, sperrt Riepertinger hier die Tür zum Keller auf. Aber auch letzteres nicht mehr, zu viel Arbeit sei das für ihn, sagt er. Beim letzten Mal, 2017, seien an einem Tag 500 Menschen gekommen. Kaum stemmbar ohne entsprechende Museums-Infrastruktur. Auch deshalb wünscht sich Riepertinger, dass die Sammlung zum Museum gemacht wird. Dass es genug Interessenten dafür gäbe, daran hat Riepertinger keinen Zweifel. In den medizinhistorischen Museen in Berlin und in Wien stünden die Menschen Schlange, sagt er, warum nicht auch in München?
"Das soll kein Gruselkabinett werden, sondern begeistern für die Idee der medizinischen Aufklärung", so der Oberpräparator. Seit einigen Jahren ist der 68-jährige Riepertinger zwar in Rente, aber wenn es hin und wieder noch eine Obduktion gibt, kommt er rein. Ansonsten gibt es hier auch keinen Nachfolger mehr. Nur noch etwa zehn Obduktionen im Jahr gebe es hier, sagt Riepertinger. Er rührt also lieber für die Museumssache weiter die Trommel. Seit fast zwanzig Jahren bemühe er sich. "Jetzt kommt endlich Bewegung hinein und ich habe neue Hoffnung", sagt er.
Der Stadtrat solle sich nun mit der Sache befassen. Unterstützung bekommt Riepertinger bisher von der Stadtratsfraktion der Opposition: Die Fraktion aus CSU/Freie Wähler beantragte kürzlich, dass der Kulturausschuss und der Gesundheitsausschuss beraten sollen, ob die Einrichtung eines städtischen medizinhistorischen Museums, benannt nach Siegfried Oberndorfer, möglich sei. Hörsaal, Sektionssaal und die Präparatesammlung könnten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Und auch der historischen Person Siegfried Oberndorfer soll ein Raum gewidmet werden.
Schon im Februar warnte die Fraktion von FDP/Bayernpartei davor, das Thema zu verschleppen. Denn der Umbau der München Klinik ist längst im Gange und das aktuelle Medizinkonzept sieht an der Stelle des Schwabinger Klinikareals einen neu errichteten "Gesundheitscampus" vor, in dem es noch keine Planungen für ein Museum gibt. "Wenn jetzt nicht gehandelt und der Erhalt der Sammlung beschlossen wird, steht zu befürchten, dass die Sammlung und damit das Erbe Siegfried Oberndorfers im Zuge des Klinik-Umbaus unwiederbringlich vernichtet wird", heißt es in einem Antrag der Fraktion.
Tatsächlich gibt es einen Planungsstau auf dem Areal. Denn der Stadtrat wartet auf ein neues Medizinkonzept der gesamten München Klinik an allen fünf Standorten, welches wiederum auf Eis liegt, solange nach einer neuen Geschäftsführung gesucht wird. Dass die Pathologie in Schwabing nach Bogenhausen ziehen soll, steht zwar schon fest. Aber was mit dem Haus 32 passiert, ist noch unklar. "Die künftige Nutzung wird aktuell noch durch die beteiligten Fachstellen geprüft, daher kann diesbezüglich noch keine Aussage getroffen werden", heißt es vom Kommunalreferat nur.
Welches Referat der Stadt soll sich nun zuständig fühlen?
2017 haben noch der Kommunalausschuss und der Finanzausschuss in einer gemeinsamen Sitzung befunden, dass man grundsätzlich offen sei für die Öffnung der Sammlung. Nur eine "Vorfestlegung auf das Haus 32" erscheine auf dem neuen Gesundheitscampus nicht sinnvoll. Vorstellbar sei eine Unterbringung in den Häusern 19 bis 22. Für Riepertinger ist das allerdings keine Option, er besteht auf das Pathologieinstitut als Ort. "Das Museum muss in diesem Haus entstehen. Hier sind die Sachen an dem Ort, an dem die Wirkungsstätte von Oberndorfer war. Und hier gehören sie auch hin."
2021 kam aus dem Kulturreferat die Einschätzung, dass die Sammlung im medizinischen Bereich in Teilen wertvoll sein mag, jedoch die bestehende Sammlung primär im Bereich der medizinischen Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegepersonal genutzt würde und damit nicht in die Zuständigkeit des Referats falle. Daraufhin ließ das Kommunalreferat wissen: Ein medizinhistorisches Museum wird nicht etabliert, auch, weil die Finanzierung nicht geklärt sei.
Ist ein Oberndorfer-Museum in München trotzdem denkbar? Drittmittel, Sonderausstellungen, Vermietung von Räumen für Veranstaltungen und Filmdrehs: Riepertinger zählt auf, wie man das Museum finanzieren könnte. Er ist fest davon überzeugt, dass die Sammlung ein Publikumsmagnet wäre. Und dass es an der Zeit sei, dem jüdischen Arzt Siegfried Oberndorfer den nötigen Respekt zu zollen. Auch die Nachfahren des Arztes unterstützten ihn bei seinem Anliegen. Sein Traum wäre es, mit dem Enkel von Oberndorfer zusammen irgendwann mal tatsächlich die Eröffnung des Museums zu erleben. "Dann wahrscheinlich auf Gehstöcken gestützt."
Medizin im Museum
Nicht nur Siegfried Oberndorfer sammelte gerne Präparate. Der wohl berühmteste Pathologe Deutschlands, Rudolf Virchow, stellte seine Sammlung an der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität Ende des 19. Jahrhunderts für die Öffentlichkeit aus. Heute ist sie unter anderem am Berliner Medizinhistorischen Museum an der Charité zu sehen. Dort gibt es einen umfassenden Einblick in 300 Jahre Medizingeschichte.
Auch in Wien werden Präparate ausgestellt. Die ehemalige Medizinisch-chirurgische Akademie, das Josephinum, beherbergt heute die Sammlungen der Medizinischen Universität Wien. Eine Instrumentensammlung ist dort zu sehen sowie detaillierte anatomische Wachsmodelle menschlicher Körper, die bereits 1784 bis 1788 in Florenz entstanden sind und die sich der österreichische Kaiser gekauft hatte. Einen Sektionssaal kann man außerdem im Medizinhistorischen Museum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf besichtigen, das erst 2010 eröffnete. In Ingolstadt dagegen hat man sich eher auf andere Themenbereiche spezialisiert. Im dortigen Medizinhistorischen Museum in der Alten Anatomie gibt es zum Beispiel einen großen Arzneipflanzengarten.