Medizin:Der Blinde, zu dem das Licht kam

Medizin: Klaus Marx war vollkommen blind. Heute kann er dank eines speziellen Implantats, einer Brille und der Hilfe von Chris Lohmann (links) wieder Kontraste erkennen.

Klaus Marx war vollkommen blind. Heute kann er dank eines speziellen Implantats, einer Brille und der Hilfe von Chris Lohmann (links) wieder Kontraste erkennen.

(Foto: Robert Haas)

Die Welt um Klaus Marx wird dunkler und dunkler, bis er eines Tages gar nichts mehr sieht. Dann wird ihm in München ein Computerchip ins Auge implantiert.

Von Christina Hertel

Für Klaus Marx, 52 Jahre alt, ist die Welt ein Ort geworden, an dem er jeden Tag ein kleines Wunder erlebt. Wenn er auf einer Parkbank sitzt, den Kopf in den Nacken legt und etwas Weißes an ihm vorüberzieht. Wenn er im Wald steht und irgendwo in der Ferne ein helles Viereck aufblitzt. Wenn er vorsichtig durch die Straßen spaziert und über ihm etwas leuchtet. Die vergangenen 30 Jahre wurde es um Marx immer dunkler, bis am Ende alles schwarz war. Doch nun mischt sich in diese Dunkelheit wieder Licht. Klaus Marx ist der erste Blinde, dem ein Arzt in München ein spezielles Netzhautprothesensystem implantierte. Es kann ihn zwar nicht wieder sehend machen, doch Marx erkennt nun wieder Umrisse: Wolken am Himmel, Schilder im Wald, Ampeln auf der Straße.

Marx stammt aus Großohrenbronn in Mittelfranken, ein Dorf mit zwei Bächen, zwei Wäldern und etwas mehr als 800 Einwohnern. An einem Montagmorgen holt ihn dort ein Mann in einem schwarzen Anzug ab, ein Mitarbeiter von "Second Sight", der Firma, die die Prothese entwickelt hat. Der Mann fährt ihn nach München ins Klinikum rechts der Isar zu Chris Lohmann, dem Arzt, der sie implantiert hat. 180 Kilometer, zwei Stunden Fahrt, bloß um der Frau von der Presse zu zeigen, wie gut er wieder sehen kann. Marx sagt, er habe den Weg auf sich genommen, damit andere Blinde erfahren, dass sie eine Chance auf etwas mehr Licht im Leben haben. Und damit Forscher spüren, dass es sich lohnt, weiter an der Prothese zu arbeiten.

Deshalb sitzt er nun, fast zwei Jahre nach der Operation, wieder im Büro des "Herrn Professor", wie er Lohmann bloß nennt, und holt aus einem schwarzen Koffer eine Brille. "Jetzt sehe ich aus wie der Commander aus Star Trek" witzelt Marx. Tatsächlich hat das Ganze etwas von Science-Fiction: In der Brille ist oberhalb der Nase eine winzige Kamera einbaut. Die Bilder, die sie aufnimmt, wandelt ein Computer in Marx' Hosentasche in elektrische Signale um und sendet sie an einen Chip auf seiner Netzhaut. Dort stimulieren die elektrischen Reize die noch vorhandenen Zellen und erzeugen so Lichtmuster. "Total faszinierend", sagt Marx. Faszinierend ist ein Wort, das er oft benutzt. Die Rillen im Parkett sind für ihn faszinierend, das Fenster, der Zebrastreifen, die Bordsteinkante - es gibt wieder so viel zu sehen für ihn.

Dort, wo er herkommt, sagen die Menschen "d" statt "t", sie rollen das "R", und Marx tut das auch. "Wissen Sie, wo Großohrenbronn liegt?", fragt er und wartet die Antwort nicht ab. "Direkt neben Kleinohrenbronn." Er lacht leise über seinen Witz. In Großohrenbronn wohnt er noch immer in dem Haus, in dem er aufwuchs, mit der Frau, mit der er zusammenkam, als er 18 Jahre alt war und noch keinen Stock und keinen Blindenhund brauchte. Die Geburtsdaten seiner drei Kinder sind auf seinen Arm tätowiert: 94, 01, 07. Das Schlimmste am Blind werden, sagt er, sei, seine Frau nicht mehr lachen zu sehen. Und nicht mehr zu erkennen, ob seine Kinder traurig sind.

Marx war fünf Jahre alt, als er seine erste Brille bekam, Anfang der Siebziger war das. Jedes Jahr wurden die Gläser ein bisschen dicker, seine Mitschüler nannten ihn Brillenschlange und Maulwurf. Daran, dass er eines Tages blind werden könnte, habe er nie gedacht. Bis er eines Sommers, da war er gerade 16, mit seinem Motorrad ein Auto übersah und beinahe einen Unfall baute. Haarscharf sei das gewesen, sagt Marx.

Sein Augenarzt, "ein etwas älterer Tattergreis bei uns auf dem Dorf", dachte erst an eine Vitaminschwäche. In Wahrheit litt Marx an Retinitis pigmentosa, einer erblichen Augenerkrankung, die nach und nach die Netzhaut zerstört, von der etwa 30 000 Menschen in Deutschland betroffen sind und für die es noch immer keine Therapie gibt. Bei der Krankheit sterben zuerst die äußeren Sehzellen ab, man bekommt einen Tunnelblick und sieht vor allem nachts immer schlechter. Wenn Marx abends von der Kneipe nach Hause ging, musste er sich an den Zäunen entlanghangeln. "Mit 18 hat mir ein Arzt gesagt, dass irgendwann die Lichter ausgehen. Das war nicht gerade berauschend", sagt Marx. "Aber heute leb' ich damit."

Leicht sei ihm das nicht gefallen. Viele Jahre lang weigerte sich Marx, einen Blindenhund anzuschaffen. Statt mit Stock lief er mit Regenschirm durch sein Dorf. Er habe sich geschämt, sagt der 52-Jährige. "Vielleicht wollte ich es auch verdrängen." Heute hört man ihm an, dass er ein wenig stolz ist auf das, was er geschafft hat: Er brachte sich selbst das Gitarrespielen bei, backt Kuchen, kocht Braten und sprach so lange bei einem Pinselhersteller vor, bis ihm der Chef ein Praktikum gab, aus dem schon lange ein fester Job geworden ist.

Plötzlich waren die letzten Schemen weg

Bis drei Jahre vor der Operation nahm Marx zumindest noch Schemen wahr, dann verschwanden auch sie - ganz plötzlich: Marx stand in Großohrenbronn auf einer Kreuzung und wusste nicht mehr, wo er war, bekam Panik, Atemnot, Herzrasen. Monate später hörte seine neunjährige Tochter dann im Radio einen Werbespot von "Second Sight", der Firma mit dem Implantat. "Sie sagte zu mir: Papa da kann man was machen." Marx rief bei dem Radiosender an und etwa ein Vierteljahr später, am 16. März 2017, setzte ihm Chris Lohmann, der die Augenklinik am rechts der Isar leitet, den Chip auf die Netzhaut.

300 Menschen auf der Welt und 30 in Deutschland tragen laut dem Medizinunternehmen ein solches Implantat. Marx ist der erste, dem ein Arzt in München eines einsetzte, und bis heute ist er auch der letzte - obwohl die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Das Problem: Es kommen nur Patienten infrage, deren Sehnerv nicht beschädigt ist. Außerdem, sagt Lohmann, hätten viele Betroffene zu große Erwartungen. "Sie sagen, sie wollen wieder Fahrradfahren. Und das geht nun mal nicht." "Doch", widerspricht Marx, "meine Frau und ich fahren Tandem." Vor der OP habe er sich bloß gedacht, dass es ohnehin nicht mehr schlimmer werden könne. Jetzt sei er über jeden Lichtblitz froh.

Nach der Operation musste Marx das Sehen üben. Er suchte Straßen nach Ampeln ab, unterschied an einem Laptop Zahlen und Striche. Er kann Hell und Dunkel unterscheiden, Kontraste wahrnehmen, aber kein Buch lesen und auch keine Mimik erkennen. Je mehr er trainiert, desto besser wird es. Marx sagt, ihm sei bewusst, dass er niemals wieder so sehen wird, wie er es als Kind tat. Doch jeden Tag entdecke er etwas Neues. Bis Herbst hat er sich ein Ziel gesetzt: Nicht nur die Wolken am Himmel erkennen, sondern auch die Vögel, die dort oben Richtung Süden ziehen.

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