Süddeutsche Zeitung

Maxvorstadt:Die ganze Kraft des Widerstandes

Sie überstehen Kälte bis zu minus 273 Grad, kochendes Wasser oder tödliche Strahlung. Federico Delfrati ist fasziniert von Bärtierchen. Im Apartment der Kunst hat er dieser rätselhaften Lebensform eine Ausstellung gewidmet

Von Nicole Graner

Es liegt einfach da. Ziemlich dick. Ein Koloss wie ein gestrandeter Wal. Es hat acht pummelige Beinchen, zwei große Zehengebilde. Und das Gesicht besteht eigentlich nur aus einer röhrenförmigen Nase. Wenn das Licht darauf scheint, leuchtet der blau-graue Stoffhaufen schillernd grün, blau oder gar ein bisschen pink. Und dann wirkt es so, als ob der eigenartige Füßler plötzlich lebendig sein und sich langsam schleppend fortbewegen könnte.

Zwölf Sitzsäcke stecken in der blau-grauen Hülle und sind so zum großen "Bärtierchen" geworden, wie der in München lebende Künstler Federico Delfrati sein Sitzpolster nennt. Die Kinder in der Nachbarschaft vom "Apartment der Kunst" an der Schönfeldstraße haben das merkwürdige Teil schon längst für sich entdeckt. Denn es lässt sich herrlich darauf lümmeln und herumspringen, wie der Leiter und Kurator des Apartments, Lars Koepsel, sagt. Und die Kinder kommen noch aus einem anderen Grund: Federico Delfrati hat ihnen die magisch anmutende Geschichte des Bärtierchens erzählt.

Und er erzählt sie immer wieder: "Es waren einmal ganz winzige Tierchen. Nur einen Millimeter groß. Sie leben überall, wo es Wasser gibt, und sind wirbellos. Die Wasserläufer kommen überall vor. Und man nennt sie ,Bärtierchen'. Sie leben zum Beispiel auch im Moos. Sie trotzen allem. Eisiger Kälte bis zu minus 273 Grad Celsius, kochendem Wasser und sogar Strahlungen. Sie können sich ,einfrieren', jahrelang. So lange, bis die Umgebung für sie wieder einen Lebensraum bietet. Weil sie solche Überlebenskünstler sind, erforschen die Wissenschaftler die DNA der Tiere."

So oder so ähnlich mag Federico Delfrati den Nachbarskindern die Geschichte vielleicht erzählt haben. "Ich selbst habe über die Tierchen gelesen und war einfach nur fasziniert von ihnen", sagt der Künstler und fügt lachend an, dass er selbst mal eines im Moos suchen wollte, aber nicht gefunden habe. In diesen Tierchen sah er eine Art Vorbild, ein Synonym für diese Zeiten. Diese Wasserläufer überstehen alle Massensterben. Und wir Menschen? Wie gehen wir Menschen mit Krisen um? Wie können sich die Menschen gegen Pandemien stemmen? Die Begrifflichkeit des amerikanischen Philosophen Timothy Morton vom "Hyperobjekt" inspiriert Federico Delfrati, also Phänomene, die den Menschen zwar vertraut sind, die sie aber nicht erfassen können, weil sie doch zu fremd sind, zu komplex und zu wenig greifbar. Wie der Klimawandel zum Beispiel, das Internet oder auch Epidemien. Raum und Zeit lösen sich in der Suche nach Antworten auf.

Delfrati baut das Bärtierchen etwas stilisiert nach, als ein positives Zeichen, als ein sicheres Ruhepolster für die Seele. Dass er lange gesucht hat, um einen passenden Stoff für sein Tierchen zu finden, macht deutlich, wie sehr Delfrati in seinen Arbeiten nach dem perfekten Ganzen sucht. Er schreibt seine Gedanken zum aktuellen Wandel der Zeit auf. Während sie ihm durch den Kopf gehen, erzählt der 33-jährige Künstler, der in Mailand geboren ist, dort Kommunikationsdesign und Druckgrafik studierte und seit zehn Jahren in München lebt, entstehen gleichzeitig Melodien dazu. Musik und die Kunst, Worte in Geschichten zu verwandeln, enden in einer elektronischen Geschichte in fünf Akten, deren Techno- und Synthi-Pop-Balladen der Besucher der Ausstellung "Beresheet" vom Sitzpolster aus lauschen kann (Gesang: Federico Delfrati und Judith Bodendörfer).

Das Bärtierchen spielt übrigens nur im letzten Lied eine Rolle, eher beschäftigt sich Delfrati, der auch Illustrator bei jetzt.de ist, mit fünf Formen des Fühlens: der Verzweiflung, der Wut, der Resignation, dem Ehrgeiz und der Akzeptanz. "Mach dich bereit, geh nach Hause und erzähl es deinen Freunden. Alles Leben wird wieder vergehen, die Welt ist an ihrem Ende", singt Delfrati im ersten Lied, das er Timothy Morton widmet.

Aber so tragisch, so endlich das auch klingen mag, in den fünf Liedern schwingen nicht nur düstere, manchmal absurde Traum-Magien mit, sondern auch der hoffnungsvolle Blick in die Zukunft. "Sonst würde", wie Delfrati augenzwinkernd sagt, "ja auch das Bärtierchen nicht hier liegen", das der Künstler eindeutig als Mutmacher sieht: So langsam es sich auch tollpatschig bewegen mag, so schlummert die ganze Kraft des Widerstandes in ihm: Und birgt damit auch die Chance, sich anzupassen, sich zu verändern. So singt Delfrati: "Es gibt kein Warum, es gibt kein Problem, verweilend in diesem endlosen Prozess mit vielen Zweifeln und vielen Versprechungen. Hier sind wir wieder." Dem Bärtierchen sei Dank.

"Beresheet: eine elektronische Geschichte in fünf Akten". Zu sehen und zu hören noch bis zum 24. Juli. Apartment der Kunst an der Schönfeldstraße 19 im Rückgebäude. Öffnungszeiten sind: Dienstag bis Donnerstag, 12 bis 16 Uhr, freitags, 11 bis 13.30 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 11.07.2020
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