Noch im Juni sah alles ein bisschen aus wie im Rohbau. Kabel hingen von der Decke, die Wände waren frisch verputzt. Über der Eingangstür prangte ein Loch, wo sich früher ein Schriftzug befand. Die Sonne aber strahlte da schon durch die neuen Fenster an der Kurfürstenstraße 2. Und von Mitte August an werden sich die Gäste in den 105 Quadratmetern des neu eröffneten Cafés "Eigenleben" wie in einem Aquarium unter Wasser fühlen - inmitten blauer Wände und einer blau gestrichenen Decke.
In den Räumen des ehemaligen "Telos" in der Maxvorstadt entsteht Anne Bauers Traum. Ein Treffpunkt für Generationen. Ein "Dreh- und Angelpunkt für Projekte, die in der Gesellschaft etwas bewegen können", davon ist die 52-Jährige überzeugt. Sie sei schon "so aufgeregt", sagt das Energiebündel lachend. Weil sie die tollen Menschen, die sich in den kommenden Tagen an diesem Ort treffen werden, alle schon kennt und jetzt endlich persönlich miteinander bekannt machen kann.
Anne Bauer, selbständige Grafikerin und Kommunikationsdesignerin, kennt sich aus mit Aktivitäten für junge Leute von gestern und heute. Vor vier Jahren gründete sie die Marli-Bossert-Stiftung, einen gemeinnützigen Verein, der sich dafür einsetzt, dass Menschen im Alter mit ihren unschätzbaren Erfahrungen ein wertvoller und respektierter Teil der Gesellschaft bleiben. Anlass der Gründung war allerdings ein Schicksalstag: Am 6. April 2017, Bauers Geburtstag, verstarb nicht nur die Großmutter Marie-Luise Bossert im Alter von 96 Jahren. Und Bauers Mutter Ulrike Ziegler verlor justament am selben Tag ihre Firma. Urplötzlich sah sich die kreative Unternehmerin damals in den Ruhestand katapultiert. "Meine Mutter fiel in ein Loch", erinnert sich Anne Bauer. "Und ich habe es mir dann zur Aufgabe gemacht, ihr eine sinnvolle Beschäftigung zu ermöglichen." Magazine inhaltlich zu entwickeln und zu gestalten war schon immer Bauers Leidenschaft, dazu kam der Wunsch ihrer Mutter, zu bloggen. Ein Online-Magazin für die so genannten Best Ager herauszugeben war der logische Schritt.
Das Portal " eigenleben.jetzt", das erste Projekt der Stiftung, ging 2018 an den Start. Mit Ulrike Ziegler als Kuratorin und Lektorin. Ein Magazin, offen für alles und jeden, in dem nicht nur über Menschen um die 60 aufwärts geschrieben wird. Sondern in dem die Generation selbst ungefiltert zu Wort kommt, das sie aktiv gestaltet. Da finden sich Artikel, Porträts, Kolumnen, Podcasts und Videos - zu allem, was inspiriert. Es gebe, betonen die Macher und Macherinnen der Online-Präsenz, keine "typischen Altersthemen". Der Ruhestand sei schließlich kein Stillstand. "Auf diese Menschen, die bei uns dabei sind, trifft der klassische Altersbegriff nicht zu", betont Anne Bauer. "Das ist keine tüttelige oder plüschige Generation, das sind die früheren 68er. Die waren mal Hippies und haben Mick Jagger gehört." Im Internet fungierte das Magazin dann schnell als Sprachrohr für die ältere Generation. 2019 wurde "eigenleben.jetzt" unter 1200 Einsendungen aufgrund seiner journalistischen Qualität, seiner sozialen Verantwortung sowie seiner gesellschaftlichen Relevanz gar für den Grimme-Online-Award nominiert. "Das war gigantisch", freut sich Anne Bauer noch heute. Inzwischen engagieren sich mehr als 30 Menschen jeden Alters im Redaktionsteam, mehr als 200 Beiträge sind bereits erschienen.
Doch die Vereinsvorsitzende und Herausgeberin des Magazins wollte von Anfang an mehr als nur ein rein virtuelles Netzwerk. Sie wünschte sich auch einen realen, generationenübergreifenden Treffpunkt. Mangels Alternativen traf man sich zunächst einmal monatlich in Cafés, aber schnell war klar, "wir brauchen einen eigenen Ort". Einen, der jederzeit offen ist, wo es ein Café gibt, wo Seminare stattfinden können, wo Ausstellungsflächen und eine Bühne vorhanden sind, um Talente präsentieren und fördern zu können. Eine Anlaufstelle, bei der die Älteren die Gastgeber sind. Und bei der die jungen Leute das Gefühl haben, sie kommen zu Oma und Opa. Das Konzept war schon weit gediehen, lediglich Räume fehlten noch - da kam Corona über die Welt.
Anne Bauer schwenkte um. Statt eines sozialen Netzwerks an Ort und Stelle rief sie nun eine geschützte Plattform im Netz ins Leben, den "eigenleben.Club". Das zweite erfolgreiche Projekt der Stiftung. 180 Mitglieder zwischen 18 und 80 hat der Club mittlerweile, auch technisch wenig Versierte finden Motivation und Unterstützung, um am digitalen Leben teilhaben zu können. Es gibt jede Menge Interessensgruppen und Aktionen zum Mitmachen, Sprachkurse etwa, Vorträge, eine Reisegruppe, ein Musikzimmer. Eine junge Studentin beispielsweise veranstaltet jedes Wochenende einen Backkurs, bei dem die Teilnehmer alle in ihrer eigenen Küche mitmachen.
Einmal allerdings, an einem Wochenende im August 2020, konnten sich die Clubber bereits persönlich kennenlernen. Beim "Festival der Generationen" in der Schwabinger Leopoldstraße 7. "Das Schöne bei diesem Event war zu sehen, wie sehr die Jungen die Alten suchen", sagt Anne Bauer. Leider fehle dieser Kontakt heutzutage häufig, allein wohnortbedingt. Doch die Sehnsucht sei da. "Und sie hat sich jetzt in der Corona-Krise noch einmal verstärkt. Denn für die jungen Leute ist es häufig die erste Krise in ihrem Leben - während die Älteren da schon Erfahrung haben und entspannter sind."
Der neue Treffpunkt an der Kurfürstenstraße soll diese Geborgenheit nun dauerhaft ermöglichen. Die Stiftungsvorsitzende hatte Glück, sie fand eine Vermieterin, die die Kosten für die gesamte Renovierung übernimmt. Der Verein muss auch so noch genug bezahlen, rund 100 000 Euro für die gesamte Einrichtung. Monatelang macht Bauer nichts anderes als Fundraising - in Pandemiezeiten trotz vielfach ausgezeichnetem Konzept ein schwieriges Unterfangen. Jetzt aber kann das Café "eigenleben" endlich eröffnen. Zu essen und zu trinken gibt es dann Leckeres von früher und heute, getreu dem Motto "alte Küche neu überdacht". Pichelsteiner Eintopf etwa, Bruderhahn-Pflanzerl, gesottenes Rinderfilet in Gemüsesud mit geschabtem Meerrettich oder auch Linsen mit böhmischen Dalken. Das konkrete Angebot muss sich Karl Newedel, 66-jähriger Profikoch und Foodstylist mit 50 Jahren Erfahrung, noch überlegen. Serviert wird nachhaltig mit Pfandgeschirr und mit von Freiwilligen genähten Stoffservietten. Drinnen. Oder draußen, im Schanigarten.