Max Mannheimer wird 95:Die Stimme der Zukunft

Max Mannheimer wird 95: Max Mannheimer kämpft unermüdlich gegen das Vergessen - und will, dass sich die Greueltaten des Nazi-Regimes niemals wiederholen.

Max Mannheimer kämpft unermüdlich gegen das Vergessen - und will, dass sich die Greueltaten des Nazi-Regimes niemals wiederholen.

(Foto: Claus Schunk)
  • Max Mannheimer, Holocaust-Überlebender und Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, wird heute 95 Jahre alt.
  • Er ist zu einer gewichtigen Stimme für die sechs Millionen Juden geworden, die von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren in der Ukraine, Slowakei, Litauen oder Frankreich ermordet oder in die Vernichtungslager deportiert wurden.
  • Mannheimers Terminkalender ist auf Monate ausgebucht - er führt unermüdlich Zeitzeugengespräche und kämpft gegen das Vergessen.

Von Helmut Zeller, Dachau

Die schönsten Liebesbriefe, sagte Max Mannheimer einmal, hat Franz Kafka geschrieben. Es sind die "Briefe an Milena", über die Mannheimer ins Schwärmen gerät. Der alte Mann aus Mähren versteht ziemlich viel von Literatur, auch deshalb, weil er die Bitterkeit und Süße des Lebens kennt und in Abgründe geschaut hat, an die selbst der Prager Schriftsteller, der seiner Zeit weit voraus war, sich nur tastend herangeschrieben hat. Wovon sonst sollte Literatur handeln. Und von Milena eben, der wilden, zarten Milena Jesenská - jeder Satz an sie berührt die Seele Max Mannheimers. "Du gehörst zu mir, selbst, wenn ich Dich nie mehr sehen würde." Es sind viele, die Max Mannheimer verloren hat, aber nahe bei sich hält. Bis zum heutigen Tag, an dem er seinen 95. Geburtstag begeht.

Franz Kafka starb 1924, bevor die Nationalsozialisten über die Tschechoslowakische Republik herfielen und Europa in einen Vernichtungskrieg stürzten. Die Spuren seiner drei Schwestern verloren sich in Konzentrationslagern und Ghettos, Milena starb 1944 im KZ Ravensbrück. Max Mannheimer überlebte Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und die Dachauer KZ-Außenlager Allach und Mühldorf und wurde am 30. April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit. Nur er und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Edgar sind von der ganzen Familie noch am Leben. Die Eltern und ihre Geschwister Ernst und Käthe wurden 1943 von der SS ermordet, ebenso Max Mannheimers Ehefrau Eva und eine Schwägerin. Bruder Erich wurde ein paar Wochen später ermordet. An der Rampe von Auschwitz-Birkenau sieht Mannheimer seine Angehörigen zum letzten Mal. Auf seine Frage, was mit den Frauen, Kindern und älteren Menschen geschehe, die einen Lastwagen besteigen mussten, antwortet ein Häftling, der schon länger im Lager war: "Gehen durch den Kamin."

Unzählige Auftritte gegen das Vergessen

Schon viel wurde über sein Überleben im Holocaust geschrieben - am eindrücklichsten hat er selbst es in seinen beiden Büchern "Spätes Tagebuch" und "Max Mannheimer. Drei Leben" getan. Das "Tagebuch", geschrieben im atemlosen Rhythmus eines Gehetzten, wurde in viele Sprachen übersetzt, darunter auch ins Japanische, und gehört mittlerweile zum Kanon der Holocaust-Literatur. Unzählige Fernsehauftritte, Interviews, Aufsätze, Presseartikel, um die 40 000 Google-Eintragungen, Filme ("Der weiße Rabe") - Max Mannheimer ist zu dem Zeitzeugen geworden, auf den auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hört. Politiker drängen, wann immer sie die Gelegenheit haben, zu ihm auf die Pressefotos. Unzählige Preise, mehrere Schatullen in seinem Haus, füllen die Orden und Medaillen. Das freut ihn, vor allem aber deshalb, weil es ihm dabei hilft, dass seine Stimme gehört wird.

Er ist zu einer gewichtigen Stimme für die sechs Millionen Juden geworden, die von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren in der Ukraine, Slowakei, Litauen oder Frankreich ermordet oder in die Vernichtungslager deportiert wurden. Seit 30 Jahren führt er - im buchstäblichen Sinn des Wortes - unermüdlich Zeitzeugengespräche, klärt Schüler und Erwachsene über den Holocaust und die anderen Verbrechen des Nationalsozialismus auf - mehrmals in der Woche, sein Terminkalender ist auf Monate im voraus voll.

Ein Draht zu jungen Leuten

Die Schüler von heute seien zwar nicht verantwortlich für das, was damals geschehen ist - aber dafür, dass es sich nicht wiederhole. Das hämmert er den Jugendlichen ein, und weil er zu ihnen in seiner humorvollen und authentischen Art sofort einen Draht findet, nehmen sie es sich zu Herzen. Mannheimer tut mehr für die Aufklärung, die Demokratie und gegen Rassismus und Antisemitismus, als es bildungspolitische Programme und Schulen vermögen. "Ich bin kein Ankläger, sondern ein Zeuge", sagt er. Er will Versöhnung. Weil er weiß, dass nur darauf die Zukunft gebaut werden kann. Dafür nimmt er auch Kritik in Kauf, etwa als er den Karls-Preis der Sudetendeutschen Landsmannschaft entgegennahm.

Mannheimer duldet weder Intoleranz noch Vorurteile

Er engagierte sich für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, mit Tschechien - und unterstützte den ehemaligen Dachauer Oberbürgermeister Peter Bürgel in dem Bemühen um eine Partnerstadt in Israel. Dabei geht er diplomatisch und gewitzt vor, nur in einem Punkt wird Max Mannheimer fuchsteufelswild: bei abfälligen Bemerkungen über Nationalitäten oder ethnischen Gruppen. Intoleranz und Vorurteile duldet er nicht.

Max Mannheimer wird 95: Max Mannheimer redet vor allem oft in Schulen über den Holocaust.

Max Mannheimer redet vor allem oft in Schulen über den Holocaust.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Auch wenn die Welt aus Auschwitz nichts gelernt hat, wie er einmal sagte, er hat nichts vergessen - die Gesichter der Verlorenen sind immer gegenwärtig, in allen seinen drei Leben. Die Kindheit im mährischen Neutitschein wurde ihm wie den anderer Millionen von jüdischen Kindern in Europa zerstört. In seinem zweiten Leben schaute er dem Tod, dem Meister aus Deutschland, ins Gesicht: Am Tag nach der Ankunft in Auschwitz hat ihn die Verzweiflung gepackt. Beim ersten Morgenappell will er sich in den elektrisch geladenen Stacheldraht stürzen. Der 17-jährige Edgar fragt: "Willst du mich alleine lassen?" Da habe er sich geschämt, sagt Mannheimer. Jeden Tag Gewalt, Folter und Tote, dazu Hunger, Durst und Schlafmangel, Kälte, Krankheiten und Zwangsarbeit. Ein SS-Mann hetzt immer wieder seinen Schäferhund auf sie. "Gebissen hat mich der Hund zwar nicht, aber nach dem Krieg hat er mich in meinen Träumen besucht." Die Befreiung: "Ich war damals eine ziemliche Leiche und dachte, wenn ich 40 Jahre alt werde, dann ist das viel. Und nun werde ich 95 und bin immer noch on tour", sagt er. "Ich habe einfach gute Gene."

Albträume und Depressionen hat er überwunden

Das dritte Leben: Nach der Befreiung verlässt Mannheimer Deutschland und will nie zurückkehren. Doch eineinhalb Jahre später ist er wieder da. Er hat sich verliebt - ausgerechnet in eine Deutsche: Elfriede Eiselt, Widerstandskämpferin. "Sie versicherte mir, dass Deutschland eine ausgezeichnete Chance hat, eine Demokratie zu werden. Und wenn man verliebt ist, glaubt man ja vieles." Albträume und Depressionen belasten ihn. Als er 1981 in den USA an einer Mauer ein Hakenkreuz sieht, bricht er zusammen. Er versucht, es mit Schraubenzieher und Hammer aus dem Beton zu meißeln. Er kommt in eine Klinik. Im Badezimmer holt ihn die Angst ein: "Ich habe die Dusche ganz vorsichtig aufgedreht, um zu sehen, ob wirklich Wasser und nicht Gas herauskommt." Er nimmt Tabletten und beginnt zu malen. Unter dem Pseudonym "ben jakov" entstehen Werke, die längst über den therapeutischen Zweck hinausgehen. Heute sagt er: "Ich habe mein Trauma überwunden."

Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar durch die Rote Armee sprach Mannheimer, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau und Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, im Landtag und kritisierte die Pegida-Bewegung. Er streitet für ein Verbot der NPD, wider eine Neuauflage von Hitlers "Mein Kampf" undforderte gegen den politischen Mainstream eine Einladung des russischen Präsidenten Putin zur Gedenkfeier in Auschwitz. Verständigung, Frieden, Leben - Max Mannheimer weiß, wovon er spricht. Es liegt an den anderen, zu hören. Er jedenfalls hofft, wie er sagt, auf weitere fünf Jahre.

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