Polizei in München:"Auslernen gibt's nicht bei mir"

Matzinger Super-Recognizer Wiesn Polizei

Immer auf dem Sprung: Elisabeth Matzinger vor dem Paternoster im Polizeipräsidium München.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Als Diplom-Pädagogin hat Elisabeth Matzinger im Seniorenheim gearbeitet und nebenher kellnern müssen. Heute ist sie Kriminalhauptmeisterin und gehört neuerdings zu den Super-Recognizern auf der Wiesn.

Von Jutta Czeguhn

Im richtigen Moment auf- oder abzuspringen, ohne Zaudern. Darauf kommt es an beim Paternoster-Fahren. Elisabeth Matzinger beherrscht dieses Timing ohne Probleme. Wir treffen sie im Polizeipräsidium an der Münchner Ettstraße, wo die hölzernen, offenen Umlaufkabinen seit 1913 kreisen und Menschen in die Etagen schaufeln. Dass man bei der Durchfahrt in diesem Kultlift einen Kopfstand hinlegen muss, ist allerdings ein Mythos. Um das Trau-dich-einfach geht es nicht nur beim Aufzugfahren, auch sonst im Leben wird einem ständig etwas zugemutet. Da kommt es dann drauf an, ob man sich wegduckt oder den Herausforderungen neugierig ins Auge schaut. Bevor Elisabeth Matzinger Kriminalhauptmeisterin wurde, gab es ein anderes Leben. In einem schlichten Raum in der Pressestelle des Präsidiums erzählt die 40-Jährige ihre Geschichte.

Als Grundschülerin will Elisabeth Matzinger Jura studieren, die Berufswünsche werden dann aber diffuser werden, je näher das Ende der Schulzeit kommt. "In der Abi-Phase war ich auf ziemlichen Abwegen", erzählt sie. 1997, das Abitur in der Tasche, will sich das Einzelkind abnabeln vom Münchner Zuhause, sie geht nach Augsburg, zieht dort ins Studentenwohnheim und schreibt sich, weil sie gerne mit Menschen arbeitet, für das Fach Diplom-Pädagogik ein. Die Menschen, mit denen sie es zu tun hat, sind nicht nur Kommilitonen und Professoren, bei einem Praktikum im Altenheim 2001 begegnet sie Schwerstpflegefällen.

In der Nacht nach ihrem ersten Praktikumstag schläft sie schlecht. Was sie gesehen hat, geht ihr im Kopf herum, sie muss an ihre Oma denken. Doch erkennt sie auch, was in den Heimen gebraucht wird. Neben der Pflege vor allem auch Weiterbildungsangebote für die Mitarbeiter - etwas, das sie sich als berufliche Richtung für sich vorstellen kann. Zudem ist die junge Frau mit der direkten Münchner Art bei den Senioren beliebt. "Wann kommen Sie wieder?", heißt es jedes Mal, wenn die Studentin Dienstschluss hat.

Im Jahr 2003 beendet Matzinger ihr Studium. "Besser als nichts erst mal", sagt sie sich und bewirbt sich in einem Seniorenheim im Münchner Süden. Am Ende wird sie dort sieben Jahre arbeiten. Zuständig ist sie unter anderem für das Betreuungsprogramm, das sie zusammen mit Zivis, Ehrenamtlichen und Seelsorgern auf die Beine stellt. Auch das Qualitätsmanagement gehört zu ihren Aufgaben. Sie hat nun einen Beruf, der den ganzen Menschen fordert, und sehr oft überfordert.

Von 2005 an gibt es da noch jemanden, der ihre Kraft und Aufmerksamkeit braucht: Ihre Tochter wird geboren. Sie ist nun eine arbeitende, allein erziehende Mutter, die zunehmend mit ihrem Job hadert. "Das Prestige ist schlecht, die Bezahlung grottig, der Frust groß, der Krankenstand hoch, sie kommen abends nach Hause und sind ausgesaugt", beschreibt sie diesen Zustand permanenter Erschöpfung. Finanziell kommt sie grad so über die Runden. Zusätzlich zu ihrer 40-Stunden-und-mehr-Woche geht sie an zwei Abenden noch kellnern. Im teuren München plagen die junge Mutter Zukunftsängste: "Irgendwann werde ich zu alt sein für zwei Jobs, ich kann nicht, bis ich 60 bin, kellnern." Sie will eine Arbeit finden, von der sie und ihre Tochter auch leben können.

Die Kneipe, in der sie bedient, liegt neben einer Polizeiinspektion. Die Beamten trinken dort ihr Feierabendbier, da hört sie viele Geschichten. "Polizeiarbeit und Erziehungswissenschaften liegen gar nicht so weit auseinander", denkt Elisabeth Matzinger und will den Schritt wagen in einen neuen Beruf, der bekanntlich auch nicht gerade üppig bezahlt ist. 2009 kündigt sie im Heim, bewirbt sich und besteht die Einstellungstests. Mit 30 zählt sie schon zu den älteren Polizeianwärtern.

Nun heißt es wieder Büffeln, für die Prüfungen in Allgemeines Polizeirecht, Beamtenrecht, Straf- und Verkehrsrecht, man vermittelt ihr Kenntnisse in Spurensicherung und Fahndung, sie bekommt eine Waffen- und Schießausbildung, Fahrsicherheitstraining und sie muss jede Menge Sport treiben. Alles läuft gut, nur im Fach "Einsatzbezogene Selbstverteidigung" fällt Elisabeth Matzinger bei der praktischen Prüfung durch. Einmal noch darf sie wiederholen. Also trainiert sie verbissen mit einem Kollegen, einem Kickboxer mit Weltmeistertitel. Sie besteht. "Wenn es nicht geklappt hätte, wäre ich mit nichts dagestanden", sagt sie.

Von der Einsatzhundertschaft in die Pressestelle

Als Oberpolizeiwachtmeisterin und Beamtin auf Probe durchläuft Matzinger dann die üblichen Stationen: Sie gehört zur Einsatzhundertschaft, die unter anderem bei Fußballspielen aktiv wird, arbeitet auf der Wache im Präsidium, nimmt Anzeigen auf, überführt Straftäter in die Justizvollzugsanstalt, leistet Streifendienst bei der Riemer Inspektion. Eine interessante Zeit, in der sie aber auch mit viel menschlichem Leid und Grobheit konfrontiert wird. Einmal will ihr eine psychisch kranke Frau die Dienstwaffe entreißen. Sie hat die Situation unter Kontrolle.

Dann, 2013, wird eine Stelle frei im Pressestab des Präsidiums. "Ich hatte im Studium ja auch Medienpädagogik als Wahlpflichtfach." Sie arbeitet sich ein, organisiert Veranstaltungen, Führungen durchs Polizeimuseum, bestreitet Jourdienste, füttert die Münchner Presse mit Berichten über Bargelddiebe, Pizzaräuber und Drogendealer, über Randale bei Fußballspielen, Rolltreppentreter und Freinachtblödsinn. Sie beantwortet Anfragen von Journalisten zur Münchner Sicherheitskonferenz, zum G-8-Gipfel in Elmau, steht im September 2015 am Hauptbahnhof, als Tausende Geflüchtete ankommen und die Welt sich wundert. Vor den Mikros der Radio-Stationen und den Kameras der TV-Sender wirkt sie souverän, bleibt ruhig und sachlich.

Dann kommt der 22. Juli 2016. Elisabeth Matzinger ist mit einem Kollegen auf dem Tollwut-Festival im Olympiapark, auf dem Weg zurück zur U-Bahn, gegen 18.30 Uhr sehen sie viele Menschen auf sich zukommen, sehen Einsatzfahrzeuge und Absperrungen. Von den Kollegen erfährt Matzinger von der Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum. Sie ruft beim Jourdienst an: "Brauchst du Unterstützung?" Lässt sich eine Schutzweste geben und begibt sich, in kurzem Rock und Flip-Flops an den Füßen, näher an den Tatort, auch viele Journalisten sind bereits dorthin unterwegs. "Wir haben versucht, das dort zu bündeln", erinnert sie sich. In einem nahen Autohaus wird eine provisorische Pressesammelstelle eingerichtet. Matzinger wird erst am folgenden Morgen gegen 5 Uhr im Präsidium sein und bis zum Nachmittag bleiben. Sie kann das in diesen Ausnahmenstunden nur leisten, weil sie weiß, dass ihr Kind bei der Oma gut aufgehoben ist.

Monate später sieht man Elisabeth Matzinger auf Fotos zusammen mit ihren Kollegen Marcus da Gloria Martins und Oliver Timper. Da trägt sie ihre langen Haare offen, nicht wie sonst hochgesteckt. Sie hält einen Blumenstrauß in der Hand. Das Presseteam des Präsidiums wurde geehrt für seine besonnene Arbeit in der Amok-Nacht, vor allem in den Social-Media-Kanälen, die auch schon in der Silvesternacht 2015/16, als eine Terrorwarnung die Stadt erschütterte, die Münchner in Echtzeit informierten.

Seit April gehört Elisabeth Matzinger nicht mehr zum Pressestab, sie ist in die Abteilung Einsatz des Präsidiums gewechselt, ist nun zuständig für Verbrechensbekämpfung. "Ich brauchte nach fünf Jahren einen Tapetenwechsel. Auslernen gibt's nicht bei mir", sagt sie. In der Arbeitsgruppe Früherkennung entwickelte sie, die Diplom-Pädagogin, nun zusammen mit Vertretern anderer Behörden und sozialer Institutionen Strategien, wie Straftaten schon im Ansatz verhindert werden können.

Aus den Münchner Medien wird Kriminalhauptmeisterin Matzinger wohl so schnell nicht verschwinden. Erst kürzlich hat man sie bei einer Pressekonferenz als eine von 37 sogenannten Super-Recognizern des Präsidiums präsentiert. Britische Wissenschaftler haben ihr ein phänomenales Gesichter-Gedächtnis attestiert - eine Fähigkeit, die nur etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung besitzen. Sie war sich dieses besonderen Talents gar nicht bewusst. Beim Oktoberfest sollen diese menschlichen Gesichtsscanner nun zum ersten Mal erprobt werden. Und irgendwie hat man die Vermutung, dass diese Elisabeth Matzinger dem Leben auch weiterhin voller Neugier ins Gesicht blicken wird.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: