Als alles vorbei ist, will keiner gehen, weil sich alle an den Händen halten und weinen. Dann fangen sie zu singen an, "Ein feste Burg ist unser Gott", was sonst. Draußen lärmen die Bauarbeiter, die schnell damit beginnen sollen, das mehr als 100 Jahre alte Gotteshaus abzureißen. Das war am Abend des 13. Juni 1938 - der Tag, an dem die evangelische Gemeinde Münchens ihr Herz verlor, ihre Mitte, vor allem aber und in erster Linie ihre Heimat: Sankt Matthäus, die erste protestantische Kirche der Stadt, wurde abgerissen, einfach so, mit der ebenso brutalen wie banalen Begründung, dass sie den Verkehrsfluss in der Sonnenstraße störte und außerdem Parkplätze benötigt würden.
Gleichzeitig war der Willkürakt aber auch eine Demonstration der Nazis, die kurz nach der "Heimholung" Österreichs auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen. Wenige Tage zuvor war die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße geschleift worden - nicht, dass die Nazis mit den Protestanten das gleiche vorgehabt hätten wie mit den Juden. Aber dass es nun endgültig vorbei war mit dem Recht, dass nun Willkür und Gewalt am Ruder waren, das sollten sie nur merken, die Juden, die Protestanten und am besten alle anderen mit dazu.
1937 hatte der Gauleiter und Minister Adolf Wagner eine Denkschrift verfasst, in der er sich mit dem Ausbau von Verkehrswegen auseinandersetzte - und mit dem Parkplatzproblem, das offenbar schon damals ein drängendes war. Wie selbstverständlich schrieb er auch über den Abbruch der Matthäuskirche (die er fälschlich "Markus" titulierte). Sie war 1833 erbaut worden - am Stachus, ungefähr dort, wo heute die Schwanthalerstraße auf die Sonnenstraße trifft. Sie stand mitten in der Straße, umflossen vom Verkehr - das hatte seine recht profane Ursache darin, dass der Grund dort günstig war, allerdings mit dem Nebeneffekt, dass sie einen unübersehbaren städtebaulichen Akzent an einer der Hauptverkehrsachsen der Stadt setzte.
Mehr als 100 Jahre war das so - bis zu Beginn des Jahres 1938 der Stadtbaurat Hermann Alker mit der Landeskirche über den Abriss zu verhandeln begann. Warum sich ein halbes Jahr später die Ereignisse überschlugen, ist unklar. Jedenfalls gab es am frühen Abend des 9. Juni eine Besprechung im Innenministerium zwischen einem Referenten und dem Pfarrer Friedrich Loy. Aber was heißt Besprechung: Dem Pfarrer wird nur mitgeteilt, dass die Kirche sofort abgebrochen wird, die bisherigen Verhandlungen gelten nichts mehr.
Die alte Matthäuskirche (auf der historischen Postkarte falsch als "Mathias-Kirche" bezeichnet) stand mitten auf der Sonnenstraße.
Der Landesbischof Hans Meiser versucht zu retten, was zu retten ist - hat aber wohl auch beständig das Verhältnis seiner Glaubensgemeinschaft zum Regime im Hinterkopf. "Ernstlich haben die Vertreter der Gemeinde dem Ansinnen widerstrebt, die angestammte Kirche zum Opfer zu bringen", wird Meiser in seiner letzten Predigt beim Abschiedsgottesdienst sagen. "Aber der Zwang der Verhältnisse hat alles noch so feste Wollen zunichte gemacht."