Matthäuskirche im Nationalsozialismus:Machtspiele mit der Abrissbirne

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Die neue Kirche wurde nach dem Krieg am Sendlinger Tor gebaut. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Kurz nach der Hauptsynagoge ließen die Nazis vor 75 Jahren auch die evangelische Matthäuskirche schleifen. Sie störe den Verkehr auf der Sonnenstraße. Erst 1955 erhalten die Münchner Protestanten Ersatz für das Gotteshaus.

Von Stephan Handel

Als alles vorbei ist, will keiner gehen, weil sich alle an den Händen halten und weinen. Dann fangen sie zu singen an, "Ein feste Burg ist unser Gott", was sonst. Draußen lärmen die Bauarbeiter, die schnell damit beginnen sollen, das mehr als 100 Jahre alte Gotteshaus abzureißen. Das war am Abend des 13. Juni 1938 - der Tag, an dem die evangelische Gemeinde Münchens ihr Herz verlor, ihre Mitte, vor allem aber und in erster Linie ihre Heimat: Sankt Matthäus, die erste protestantische Kirche der Stadt, wurde abgerissen, einfach so, mit der ebenso brutalen wie banalen Begründung, dass sie den Verkehrsfluss in der Sonnenstraße störte und außerdem Parkplätze benötigt würden.

Gleichzeitig war der Willkürakt aber auch eine Demonstration der Nazis, die kurz nach der "Heimholung" Österreichs auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen. Wenige Tage zuvor war die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße geschleift worden - nicht, dass die Nazis mit den Protestanten das gleiche vorgehabt hätten wie mit den Juden. Aber dass es nun endgültig vorbei war mit dem Recht, dass nun Willkür und Gewalt am Ruder waren, das sollten sie nur merken, die Juden, die Protestanten und am besten alle anderen mit dazu.

1937 hatte der Gauleiter und Minister Adolf Wagner eine Denkschrift verfasst, in der er sich mit dem Ausbau von Verkehrswegen auseinandersetzte - und mit dem Parkplatzproblem, das offenbar schon damals ein drängendes war. Wie selbstverständlich schrieb er auch über den Abbruch der Matthäuskirche (die er fälschlich "Markus" titulierte). Sie war 1833 erbaut worden - am Stachus, ungefähr dort, wo heute die Schwanthalerstraße auf die Sonnenstraße trifft. Sie stand mitten in der Straße, umflossen vom Verkehr - das hatte seine recht profane Ursache darin, dass der Grund dort günstig war, allerdings mit dem Nebeneffekt, dass sie einen unübersehbaren städtebaulichen Akzent an einer der Hauptverkehrsachsen der Stadt setzte.

Mehr als 100 Jahre war das so - bis zu Beginn des Jahres 1938 der Stadtbaurat Hermann Alker mit der Landeskirche über den Abriss zu verhandeln begann. Warum sich ein halbes Jahr später die Ereignisse überschlugen, ist unklar. Jedenfalls gab es am frühen Abend des 9. Juni eine Besprechung im Innenministerium zwischen einem Referenten und dem Pfarrer Friedrich Loy. Aber was heißt Besprechung: Dem Pfarrer wird nur mitgeteilt, dass die Kirche sofort abgebrochen wird, die bisherigen Verhandlungen gelten nichts mehr.

Die alte Matthäuskirche (auf der historischen Postkarte falsch als "Mathias-Kirche" bezeichnet) stand mitten auf der Sonnenstraße. (Foto: N/A)

Der Landesbischof Hans Meiser versucht zu retten, was zu retten ist - hat aber wohl auch beständig das Verhältnis seiner Glaubensgemeinschaft zum Regime im Hinterkopf. "Ernstlich haben die Vertreter der Gemeinde dem Ansinnen widerstrebt, die angestammte Kirche zum Opfer zu bringen", wird Meiser in seiner letzten Predigt beim Abschiedsgottesdienst sagen. "Aber der Zwang der Verhältnisse hat alles noch so feste Wollen zunichte gemacht."

Immerhin: In den Verhandlungen wird erreicht, dass der Gemeinde ein Ausweichquartier zur Verfügung gestellt wird, der Weiße Saal in der ehemaligen Augustinerkirche, zu der Zeit Teil des Polizeipräsidiums. Zudem erhält Meiser die Zusage für einen Kirchenneubau, den der Staat bezahlen soll. Und: Die Kircheneinrichtung darf vor dem Abriss ausgeräumt werden, sie wird entweder über die Stadt verstreut zwischengelagert oder in die neue Heimstatt gebracht. Dennoch ist der Verlust der Matthäuskirche traumatisch für die Münchner Protestanten.

In Augenzeugenberichten ist zu lesen, dass eine große Menschenmenge gespenstisch schweigend den Abriss verfolgte. Emil Schmitt, der Mesner, muss Hals über Kopf aus seiner Dienstwohnung im Turm der Kirche ausziehen und fragt in einem maschinengeschriebenen Bericht darüber auf fast schon rührend komische Weise: "Wo bleibt der Mieterschutz?" Aus ganz Bayern treffen Solidaritätsadressen bei Pfarrer Loy ein - auch sie ein Beleg für den Zeitgeist. So schreibt Wilhelm Wiegel, Dekan in Hof, er habe, als er vom Abriss gehört habe, "die leise Hoffnung" gehegt, "es könnte doch eine Verwechslung mit der Synagoge vorliegen".

"Wo bleibt der Mieterschutz?"

Als die Kirche in Schutt und Asche liegt und Autos dort parken, wo Gottesdienst gefeiert worden war, wollen die Nazis von ihren Zusagen nichts mehr wissen - keine neue Kirche, schon gar nicht auf Staatskosten. Nach dem Ende von Krieg und braunem Mordregime bekommt die Gemeinde eine Notkirche, eine Holzbaracke am Nussbaumpark - aber noch lange keinen Neubau: Der Abbruch der alten Kirche habe nichts mit Nazi-Verfolgung zu tun, sagt der neue demokratische bayerische Staat, es seien ja zu jener Zeit nicht nur keine anderen Kirchen abgerissen worden, im Gegenteil wurden sogar neue gebaut.

Tatsächlich sei das historische Bauwerk ein Verkehrshindernis gewesen. Weil die Beamten und Politiker aber schließlich doch einsehen, dass mit juristischer Argumentation hier nichts zu gewinnen ist, stellen sie schließlich 2,3 Millionen Mark für einen Neubau zur Verfügung; 300.000 Mark für die Inneneinrichtung bringt die Gemeinde selbst auf. Dennoch dauert es bis 1955 - dann endlich haben die Protestanten in der Münchner Innenstadt wieder eine feste Heimat: Der Architekt Gustav Gsaenger baut am Nussbaum-Park, gegenüber dem Sendlinger Tor, das neue Sankt Matthäus, und der erste, der die neue Kirche betritt, ist der, der die alte 17 Jahre zuvor als letzter verlassen hat: Pfarrer Friedrich Loy.

75 Jahre ist der Verlust der ersten Matthäuskirche her - die Gemeinde gedenkt dessen mit Gottesdiensten, Konzerten, Vorträgen und Diskussionen ( www.stmatthaeus.de). Der jetzige Pfarrer Gottfried von Segnitz sagt: "Bei allem Schmerz - solche Ereignisse zeigen uns unsere Wurzeln und können uns so Kraft geben."

© SZ vom 11.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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