SZ-Serie: Bühne? Frei!:Unter Druckverlust

SZ-Serie: Bühne? Frei!: Martin Lidl tritt unter anderem mit der Kabarettmusikgruppe Les Derhosn, mit Fei Scho oder dem Orchester Marah auf. Solo ist er mit seinem Projekt Lidloop unterwegs.

Martin Lidl tritt unter anderem mit der Kabarettmusikgruppe Les Derhosn, mit Fei Scho oder dem Orchester Marah auf. Solo ist er mit seinem Projekt Lidloop unterwegs.

(Foto: Ingolf Hatz)

Kultur-Lockdown, Tag 108: Der Musiker erlebt plötzlich Neues - Entspannung

Gastbeitrag von Martin Lidl

Ich traue es mich kaum schreiben, aber der erste Lockdown kam gerade rechtzeitig. Wir standen in vollkommener Erschöpfung mit unserer Show "La Strada" auf der Bühne des GOP Varieté Theaters München, sechs Wochen quasi durchgängiges hochfrequentes Proben und die geglückte Premiere hinter uns, ein freier Tag und danach 68 Shows in knapp zwei Monaten vor uns. Da war die Nachricht vom Spielstopp erst mal so etwas wie die Rettung. Die erste Woche einfach durchschlafen, die zweite mal aufräumen, dann kamen die ersten warmen Tage, und der Lockdown brachte eine vollkommen neue Seite in mein 30-jähriges Bühnenleben. Entspannung. Künstler haben Pause, vollkommen ohne Neid, allen geht es gleich, niemand spielt. Egal ob Star mit Weltruhm oder Hans Dampf in den Gassen, ob Olympiahalle oder Fußgängerzone, Stille. Eine Erfahrung, die mir aufzeigte, wie viel Blick zur Seite, auf andere in meinem Leben, in unserem Beruf wohl existiert. Wie machen es die Kolleginnen und Kollegen, wer spielt wann und wo? Oft vielleicht nicht direkt mit Neid, aber mit Druck auf alle Fälle.

Die zweite große Erkenntnis war, dass mein Lebensentwurf als Zirkuswagenbewohner und Teil des Gemeinschafts- und Wagenplatzprojektes "Stattpark Olga" in Krisenzeiten unerwartete Vorteile hat. Wir waren ein 20-köpfiger Virenpool, weil wir eine gemeinsame Infrastruktur und Adresse bewohnen. Die Kinder hatten sich und das Trampolin, wir trafen uns, wenn auch abstands- und hygieneregelkonform, zum Kaffee an unserem Platzmittetisch, hatten Austausch und Ansprache, und es war Frühling ... Nach langer Zeit dann, im Juli mit Gänsehaut der erste Auftritt. Ein Sommer mit vielen spontanen kleinen Auftritten, oft auf Hut, wobei die Spendenfreudigkeit nach der Abstinenz deutlich spürbar war. Sommer in der Stadt, Biergartenkonzerte und eine Prognose, dass unsere GOP-Spielzeit ab 2022 durch alle sieben Häuser geht, dazu noch Södergeld und Ordnung in den verstaubten Ecken geschafft, wann war mein Leben je so entspannt?

Die nächste Erkenntnis: Man kann hier, wenn es nicht regnet und stürmt, bis Ende Oktober durchaus draußen spielen. Wir hätten es auch noch länger gemacht, aber dann kam die zweite Welle und der Lockdown light, der das Gewerbe frühzeitig in den Winterschlaf versetzte. Ich habe diese Schritte irgendwie immer verstanden. Solidarität in der Gesellschaft ist für mich etwas Lebenswertes und Wichtiges. Ich hatte öfters Bauchweh bei der These, dass jetzt Kunst und Kultur kaputt gehen. Ich dachte mir immer, nein die Kunst geht nicht kaputt. Sie war und ist immer Spiegel der aktuellen Geschehnisse. Was kaputt geht, ist die Infrastruktur, wenn Theater schließen müssen und die Immobilien einem anderen Zweck zugeführt werden. Was kaputt geht ist das Business. Allerdings sind für mich Kunst und Business nur sehr selten Freunde, und die Infrastruktur wurde durch Mietwahnsinn und das massenhafte Entstehen der Bürgerhäuser auf dem Land eh noch nie geschont. Die Pandemie bringt vieles raus. Ob gut oder schlecht. Und ohne selbstgerecht sein zu wollen, ich hätte mir so oft gewünscht, dass wir darüber nachdenken, was uns Kunst wert ist und ob wir die maßgebliche Beurteilung, ob sie etwas kann, der Vermarktbarkeit überlassen wollen. Heute: Homeschooling mit dem Herrn Sohn, schafft mir Tagesroutine, die Hoffnung lebt, dass wir als Gesellschaft unsere Hausaufgaben machen, und die Vorfreude auf den Frühling und das erste Konzert steigt mit jedem Ruf der Amsel.

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