Marstall:Über Grenzen

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Im vorproduzierten Video lässt sich der Grenzzaun zwischen den Koreas überwinden, in der Realität nicht. (Foto: Hez Kim)

"Borderline" bringt Korea in den Marstall

Von Egbert tholl, München

Natürlich sollte alles ganz anders sein, sollte "Borderline" auf einem Festival in Seoul zu sehen sein, also in Südkorea, sollte dann ans Residenztheater in den Marstall kommen. Dort ist die Produktion zwar nun auch angekommen, aber eben anders. Seit einigen Jahren bereits beschäftigt diese Kooperation das Theater, diverse Institutionen in Südkorea und das Goethe-Institut. Der Journalist Jürgen Berger, der auch für diese Zeitung über Theater schreibt, schreibt manchmal auch fürs Theater. In diesem Fall fing er bereits 2017 an, in Südkorea Interviews mit Menschen zu führen, die aus Nordkorea in den Süden des geteilten Landes geflohen waren. Diese Gespräche baute Kyungsung Lee in Seoul zu einem Theaterabend zusammen, ließ drei Schauspieler und eine Schauspielerin als Stellvertreter der Geflüchteten deren Geschichten erzählen.

In Seoul ist es zwei Uhr in der Früh, wenn die Akteure ans Werk gehen und mittels Zoom in den 8000 Kilometer entfernten Marstall übertragen werden. Dort befindet sich das Resi-Ensemblemitglied Florian Jahr, ein freundlicher Gastgeber fürs Publikum und für die Koreaner der Gesprächspartner für die nun live aufbereiteten Interviews, der auch von sich erzählt, wie überhaupt die Figuren der vier Stellvertreter auch Selbsterlebtes durchscheinen lassen. Jahr stammt aus Ostdeutschland, die Premiere ist am Tag der deutschen Einheit, er erzählt vom Ankommen und Zuhausefühlen, von den Schwierigkeiten damit, aber auch von der Reise nach Seoul in diesem Sommer und den zwei Wochen strikter Quarantäne im Hotelzimmer dort.

In manchen der Gespräche keimt eine zarte Hoffnung, in Korea könnte irgendwann einmal das gelingen, was in Deutschland vor 30 Jahren passierte. Aber diese Hoffnung wirkt eher wie eine Utopie. Die beiden Koreas trennt die vermutlich härteste und tödlichste Grenze der Welt, in beiden Teilen kommen zwei Kilometer entmilitarisierte Zone dazu, ein irritierende schöne Landschaft, in der die Natur gedeiht, weil dort niemand sein darf. In einem vorproduzierten Video sieht man die Mitwirkenden, auch Jahr, am Grenzzaun.

Das gleichermaßen Aufregendste wie Erschütterndste an diesem Abend passiert dann, wenn in den sehr guten Gesprächen nicht nur über die abenteuerliche Flucht, über China oder andere Nachbarstaaten, mittels Schleuser und viel Geld berichtet wird, sondern das Leben selbst plastisch wird. Der Hunger in Nordkorea, Folter, Gefängnis, Staatsterror, die Trennung von der Familie, die immer noch dort lebt, der Kulturschock angesichts neokapitalistischer Glitzerstädte, die Scham, in Südkorea als einer aus dem Norden zu gelten. Manche verschweigen dies selbst ihren Lebenspartnern, arbeiten, um Geld zu den Verwandten in den Norden zu schicken, trinken ihre erste Cola.

© SZ vom 05.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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