Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern:Bruchbude statt Elfenbeinturm

Lesezeit: 4 min

Das junge Kollektiv "Rena" möchte leerstehende Gebäude mit Kunst bespielen und die Kunst dadurch nahbar machen. Derzeit bietet eine ehemalige Gärtnerei in Markt Schwaben Street-Art, Ausstellungen und eine tolle Location für Fotoshootings.

Von Anja Blum

Ein blaues Biertragerl, in dem aber statt Flaschen lauter goldene Spraydosen stehen. Oben drauf eine kleine Holzplatte - fertig ist ein Beistelltischchen, das vielleicht mehr sagt über diesen besonderen Ort als tausend Worte. Um Kunst geht es hier, um Kreativität, aber auch um Begegnung, beziehungsweise die Symbiose aus beidem. "Real Experience New Art", kurz "Rena", nennt sich das Projekt beziehungsweise Kollektiv, denn die drei Macherinnen möchten "inspirierende Erlebnisse mit zeitgenössischer Kunst" bieten. Diese rauszuholen aus dem Elfenbeinturm der schicken Galerien, sie nahbar zu machen, das ist das Ziel.

Und wo ließe sich das besser verwirklichen als an einem ehemaligen Lost Place? An einem Ort, wo der Zerfall seine ganz eigene Kreativität walten lässt? Wo zerborstene Scheiben erstaunliche Muster bilden. Wo wucherndes Grün die Reste der Zivilisation verschlingt. Wo die Hinterlassenschaften früherer Bewohner Material ohne Ende bieten. Wo praktisch alles erlaubt ist?

Fünf Jahre lang ist die frühere Gärtnerei Gerstmayer in Markt Schwaben leer gestanden, doch nun herrscht dort wieder Leben - und was für eines. "Hier passiert Kunst!", sagt Rebecca Winhart. Zusammen mit zwei Freundinnen hat die junge Künstlerin "Rena" das ins Leben gerufen, begeistert erzählen die drei auf einem kleinen Platz vor dem ehemaligen Laden von ihren Erfolgen und Ideen, von Street-Art, Ausstellungen, Fotoshootings. In ihrer Mitte: das Spraydosen-Tischchen.

Zu dem Areal gehören ein altes Wohnhaus und ein Verkaufsraum. Dessen Tresen dient nun als Bar. Die Wände sind bemalt, in den Schaufenstern hängen Plakate, und die gefliesten Flächen, auf denen früher wohl allerhand Kübel mit Schnittblumen standen, bieten reichlich Sitzgelegenheit. So wird der gewölbte Raum zum Mittelpunkt des kreativen Austauschs. Auch im Wohnhaus sind die Wände teils direkt bemalt, überall entdeckt man lustige Schilder und kreativ gestaltetes Interieur.

Teil der Gärtnerei sind zudem etliche Gewächshäuser, die sich die Natur nun so langsam zurückerobert. Überall zwischen dem Beton sprießt es, man sieht Disteln und Löwenzahn, dazwischen immer wieder Efeu, aber auch ganze Bäume sind im Laufe der Jahre in die Höhe geschossen. Kein Wunder, dass dieser Lost Place eine begehrte Location für Fotoshootings ist. Beim Rundgang machen die drei jungen Mieterinnen außerdem eine fruchtige Entdeckung: In einer üppigen grünen Krone hängen Pfirsiche, samtig und duftend.

Die Glasbauten sind allerdings - bis auf einen - derart verfallen, dass sie für öffentliche Veranstaltungen nicht genutzt werden können. Die obligatorischen Spinnweben sind da noch das kleinste Problem. Überall sieht man Scherben und rostiges Eisen, viele bauliche Konstruktionen scheinen alles andere als stabil. Außerdem sind die Gewächshäuser mit Asbest verseucht. "Der steckt im Kleber zwischen den Fenstern, in all diesen Platten und vermutlich sogar schon im Boden", erklärt Winhart. Deswegen sei es den Besitzern des Areals bislang nicht gelungen, einen Pächter oder Käufer zu finden.

Zum Glück, möchte man sagen, denn die Eigentümer stimmten einer Zwischennutzung als Kunstareal nicht nur sofort zu, nein, sie stellen dem neuen Kollektiv die ehemalige Gärtnerei sogar kostenlos zur Verfügung. "Vermutlich dürfen wir 2023 auch noch hier sein", freut sich Winhart. "Das ist so großzügig!"

Das Herz von Rena sind drei kunstbegeisterte Frauen: Rebecca Winhart, 31 Jahre und Malerin, Natalie Ecker, ebenfalls 31 und Kulturwissenschaftlerin, sowie Elena Tengelmann, 29, Innenarchitektin. Um sie herum aber hat sich ein ganzes Team aus Kreativen gebildet, die mithelfen und die ehemalige Gärtnerei mit ihren Arbeiten bereichern. Einer von ihnen ist Daniel Westermeier, besser bekannt als Mr. Woodland. Der Urban-Art-Künstler aus Erding dient sozusagen als Aushängeschild für das neue Kreativareal: Mit seinem Namen verleiht er dem Projekt Glanz, mit der Sprühdose ein hinreißendes Gesicht.

Viele der Fassaden sind besprüht, bereits verewigt hat sich zum Beispiel das Münchner Kollektiv Der blaue Vogel , und ständig kommen neue Bilder hinzu. Als nächstes haben sich zwei Künstler vom Bahnwärter Thiel angekündigt. Doch nicht nur im Freien, auch im Inneren der Gärtnerei bekommt die Kunst viel Platz: Sowohl das Gewächshaus direkt an der Straße als auch das ehemalige Wohnhaus dienen als Ausstellungsflächen.

Noch ganz beflügelt sind die Rena-Macherinnen vom Eröffnungswochenende im Mai, als 14 Künstlerinnen und Künstler ihre Werke zeigten. Etwa 800 Gäste habe man an den zwei Tagen begrüßen dürfen, viele junge, aber auch solche mit Rollator, erzählt Tengelmann. Und die Rückmeldungen seien fantastisch gewesen, vor allem das Bemühen um direkte Gespräche zwischen Besuchern und Kreativen habe sich als sehr gewinnbringend erwiesen - für beide Seiten und auch in ganz wörtlichem Sinne. Etliche Werke hätten den Besitzer gewechselt. Und genau darum geht es den Macherinnen ja: die Menschen zu ermutigen, sich anstatt "irgendwelcher 0815-Palmenbilder" einmal ein individuelles Unikat übers Sofa zu hängen.

Werbung muss Rena in Markt Schwaben eigentlich keine machen: "Graffiti zieht die Leute an", sagt Ecker - und tatsächlich stehen wenig später drei interessierte Jugendliche vor der Tür. Sie würden sich gerne umschauen und später möglicherweise sogar selbst einbringen, gemeinsam mit ihrem sehr engagierten Kunstlehrer. Doch momentan ist Rena leider etwas ausgebremst: Öffentliche Veranstaltungen sind derzeit nicht möglich. Die Behörden haben sich eingeschaltet, die Kreativen brauchen eine Genehmigung für die Sondernutzung des Areals, inklusive Brandschutzkonzept. Baupläne von der Gärtnerei aber existieren nicht, so dass es erheblichen Aufwand bedeutet, die erforderlichen Unterlagen bereitzustellen. "Hätten wir nicht so viele Unterstützer, könnten wir das gar nicht leisten, auch finanziell", sagt Tengelmann.

Doch das Trio nimmt's gelassen - und betont die Vorteile der bürokratischen Nachbesserung: Mit der Genehmigung stehe man künftig rechtlich auf der sicheren Seite, außerdem sei es gut, sich auch mit diesem Aspekt der Zwischennutzung auszukennen. Rena nämlich beschränkt sich nicht nur auf die Markt Schwabener Gärtnerei, sondern möchte in naher Zukunft gerne auch andere leerstehende Gebäude in der Region mit Kunst bespielen.

Zunächst einmal aber warten die drei Frauen nun auf grünes Licht für die Gärtnerei aus dem Landratsamt. "Wir sind voll motiviert, hier wieder durchzustarten", sagt Ecker. Da mittlerweile viele weibliche Figuren auf den Fassaden prangen, kam zuletzt die Idee einer feministisch angehauchten Ausstellung auf, spätestens zum nächsten Weltfrauentag. Doch egal, wann, fest steht schon, dass auch der unkonventionelle Beistelltisch dann wieder zu allen Ehren kommen wird.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5658609
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.