Ausstellung in Ingolstadt:Wahlverwandtschaften

Ausstellung in Ingolstadt: Wie eine Schlittschuhfahrerin gleitet Annette Lucks' "Marie" (2019) dem Betrachter in der Ausstellung "Von Marie zu Luise" entgegen.

Wie eine Schlittschuhfahrerin gleitet Annette Lucks' "Marie" (2019) dem Betrachter in der Ausstellung "Von Marie zu Luise" entgegen.

(Foto: Norbert Eberle, VG Bildkunst Bonn 2021)

Die Künstlerin Annette Lucks spürt im renovierten Marieluise Fleißer-Haus der Dichterin nach.

Von Sabine Reithmaier, Ingolstadt

Der Gegensatz ist groß. Hier die Dichterin Marieluise Fleißer mit ihrer strengen, lakonischen Kunstsprache, dort die Malerin Annette Lucks mit ihrem eigenwillig verrätselten Bildkosmos. Anders als in Fleißers Werk bleibt bei ihr alles in der Schwebe, divergieren Sichtweisen, fließen Gefühltes und Gedachtes ineinander. Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Und trotzdem gelingt es Annette Lucks, in ihren Bildern der Schriftstellerin zu begegnen. Davon zeugt die Ausstellung im Marieluise Fleißer-Haus in Ingolstadt.

Das Geburtshaus der Schriftstellerin (1901-1974), ein schmales Gebäude an der Kupferstraße, ist erst im Oktober 2020 nach einer gewaltigen Sanierung wiedereröffnet worden. Die aufs Erdgeschoß beschränkte Dokumentationsstätte hat sich in ein veritables Museum verwandelt. Ebenerdig erinnert eine Schmiede-Werkstatt daran, dass "die Fleißerin", wie Bert Brecht sie in seinen Briefen nannte, Tochter eines Eisenwarenhändlers und Zeugschmieds war. Ein Stockwerk höher kreisen sechs wunderbar inszenierte Themenschwerpunkte - Talent, Erfolg, Isolation, Männer, Anerkennung und Sprache - das Leben der Schriftstellerin vielstimmig ein. Im zweiten Obergeschoss, dem Ort für Sonderausstellungen und Veranstaltungen, trifft man auf Annette Lucks Collagen, Installationen und Hochzeitsteller. Scheint ein Geheimtipp zu sein, denn die Stadt weist im Gegensatz zur Fleißer-Gesellschaft auf ihrer Museums-Homepage mit keiner Silbe auf die Ausstellung hin.

Ausstellung in Ingolstadt: "Blaue Blumen" von Annette Lucks, eine Collage, in der die Künstlerin ganz verschiedene Techniken bündelt.

"Blaue Blumen" von Annette Lucks, eine Collage, in der die Künstlerin ganz verschiedene Techniken bündelt.

(Foto: Norbert Eberle, VG Bildkunst Bonn 2021)

Die Direktheit der Dichterin war es, die Lucks in den Siebzigerjahren faszinierte, als sie deren Stück "Der starke Stamm" während ihres Studiums beim Surrealisten Mac Zimmermann im Residenztheater sah. "Da war ich platt, diese Sprache, so präzis, so hieb- und stichfest. Und der unglaubliche Realismus, die Unbarmherzigkeit." Auswirkungen auf die eigene Arbeit hatte diese Erfahrung nicht. Dachte Lucks jedenfalls damals. Überhaupt war die Künstlerin, 1952 in Regensburg geboren, in jenen Jahren noch der Ansicht, Literatur könne sie nicht zu Bildern inspirieren. Bis sie eines Tages Djuna Barnes' "Nachtgewächs" las und sofort einen ganzen Werkszyklus dazu schuf. Nur schade, dass den kein Verlag haben wollte, auch Faber & Faber nicht. Doch der Leipziger Verlag fragte Lucks, ob sie es nicht mit den Erzählungen von Marieluise Fleißer versuchen wolle? "Ich dachte erst, ich kann das nicht", erinnert sich Lucks. Trotzdem las sie die Geschichten, immer und immer wieder, "mantrahaft". Erst stellten sich kleine Köpfe und Figuren ein, dann auch andere Bilder. Gedruckt wurde die Novellenedition "Ein Pfund Orangen und neun andere Geschichten" (1995) schließlich mit vierzig ihrer Zeichnungen sowie drei Lithografien. Die Stiftung Buchkunst zählte es 1996 zu den schönsten Büchern Deutschlands und prämierte es.

Seither hat Lucks die Schriftstellerin nie mehr ganz aus den Augen verloren. Die Eröffnung des Museums bot ihr die Gelegenheit, sich wieder "in die Gesellschaft der Dichterin begeben" (Lucks). Dialog sei das keiner, wehrt sie ab, "das wäre ein viel zu starkes Wort, klingt ja so, als wollte ich mich ihrer bemächtigen". Sie bleibt vor "Marie" im ersten Raum stehen. Eine große Frauengestalt schlittert auf den Betrachter zu, daneben dicke Farbgirlanden, aber auch flüchtig skizzierte Bäume und Gesichter. Oder sind es Fabelwesen, die sich im Liniengestrüpp abzeichnen? Die komplexen Werke sträuben sich gegen eindimensionale Lesarten.

Ausstellung in Ingolstadt: In der Collage "Ein Fächer von den Frauen" (2019) hat Annette Lucks mit Tusche, Öl und Wachs gearbeitet und Fragmente von Holzschnitt und Radierung eingesetzt.

In der Collage "Ein Fächer von den Frauen" (2019) hat Annette Lucks mit Tusche, Öl und Wachs gearbeitet und Fragmente von Holzschnitt und Radierung eingesetzt.

(Foto: Norbert Eberle, VG Bildkunst Bonn 2021)

Lucks bietet auch keine Erklärungen, wie man sich in ihren Labyrinthen zurechtfindet. Dafür zitiert sie einen Satz der Schriftstellerin Siri Hustvedt: "Lesen ist verkörpertes Handeln." Was auch für das Lesen von Collagen gilt. Der Betrachter muss eintreten in vielschichtige, ambivalente Welten, zwischen Figuren, Tieren, Pflanzen mäandern und sich den Weg "Von Marie zu Luise", so der Titel der Ausstellung, selbst erschließen.

Zeichen, Metaphern und Zitate

Steht am Anfang einer Collage ein literarischer oder ein biografischer Anknüpfungspunkt? Lucks schüttelt den Kopf. "Zuerst denk' ich gar nichts, ich lese und stoße plötzlich auf einen Satz, der mich umhaut." Und Assoziationen oder Erinnerungen auslöst. In ihrem Werk schichten sich Zeichen, Metaphern, Zitate. Breite pastose Farbbahnen stehen neben spontan wirkenden Kritzeleien - "ich finde das reizvoll, wenn verschiedene Räume entstehen", sagt Lucks. Oft bleiben Erscheinungen schemenhaft, Gestalten werden nur angedeutet. Fakten und Fiktion, Widersprüchliches und Vages mischen sich. Auch technisch lässt sich die Malerin und Grafikerin nicht festlegen. Sie malt mit Öl, Aquarellfarben oder Wachs, schneidet Fragmente aus alten Radierungen, klebt sie in modifizierter Form in neue Kontexte ein. Fleißers Faible für Stoffe und Hüte hat Lucks inspiriert, sie zu grünen Turbanen, roten Zylindern und Kappen, bedrohlich verfremdeten Schwarzwaldhüten angeregt.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie es Lucks gelingt, ein dichtes Geflecht an Assoziationssplittern zu erzeugen. Und darin auch immer wieder ihrer Wahlverwandten Marieluise Fleißer zu begegnen.

Annette Lucks: Von Marie zu Luise - eine Collage, bis 30. Januar, Marie-Luise-Fleißer-Haus, Ingolstadt, Kupferstraße 18. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

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