Süddeutsche Zeitung

Literatur:Alarmsirenen schrillen lassen

Wie reagieren Schriftstellerinnen aus aller Welt auf Krieg und Krisen? Beim Schamrock Festival umkreisten mehr als 60 Dichterinnen die Frage "Where Are We Now?" - mit unterschiedlichsten Antworten.

Von Antje Weber

Wo bist du jetzt? Und bist du dort zur richtigen Zeit? Oder bist du richtig, und nur der Zeitpunkt ist falsch? Und wer darf überhaupt irgendwo sein oder nicht sein? Das sind nur einige von vielen Fragen, die Birgit Kempker bei der Eröffnung des Internationalen Schamrock-Festivals der Dichterinnen am vergangenen Freitag in den Raum wirft. Der poetisch schwebende und zugleich politisch provozierende Beitrag der Schweizer Lyrikerin bezieht sich eng auf das Motto des Festivals. "Where Are We Now?" fragen die Veranstalter Augusta und Kalle Aldis Laar im nunmehr zehnten Jahr. Birgit Kempker jedenfalls macht gleich mal klar: "Das Grobstoffliche ist nicht die Antwort."

Nein, wenn mehr als sechzig Lyrikerinnen aus aller Welt für drei dichte, anregende und aufrüttelnde Festivaltage zusammenkommen, dann geht es um feinere sprachliche Texturen - und doch auch um klare Zeichen in und zwischen den Zeilen. Denn Schamrock ist, das muss immer wieder mal gesagt werden, kein Treffen von ein paar verhuschten Poetinnen. Bereits die vergangenen Festivals beeindruckten in der Fülle der Formen und Foren. Diesmal wirkt es so, als seien womöglich noch mehr großartige Frauen zu erleben, mit kraftvollen Stimmen, eindringlichen Sätzen. Zu spüren ist auf den zahlreichen Podien in der Münchner Whitebox dabei deutlich, wie stark der Druck ist, der auf vielen Gesellschaften, auf vielen Menschen lastet - und auch, wie wichtig die Sprache als Ventil ist.

Natürlich wirft der Ukraine-Krieg seine Schatten auch auf dieses Festival. Über Lyrikerinnen aus den Nachbarländern Estland, Litauen und Belarus nähert man sich ihm über drei Tage langsam an. "Der 18. Kriegstag" heißt etwa ein düsteres Gedicht der litauischen Autorin Daiva Čepauskaitė; nicht nur aus diesem Text liest man eine "Retraumatisierung von Gesellschaften" heraus, "die gerade dabei waren, sich zu heilen", wie Cornelius Hell als Moderator sagt. Und die Ukrainerinnen selbst? Drei von ihnen sitzen gegen Ende des dritten Tages dicht an dicht auf dem Podium, Iryna Tsilyk, Halyna Petrosanyak und Oksana Stomina, und die akute Traumatisierung in ihren Einführungen und fast durchweg neuen Texten zu spüren, ist nicht nur bewegend, sondern erschütternd.

Aus Kiew ist etwa die Autorin und Regisseurin Iryna Tsilyk angereist und versucht sich selbst davon zu überzeugen, dass auch "der kulturelle Kampf" eine Bedeutung hat. Ihr Mann Artem Tschech kämpft derzeit als Soldat - auch er eigentlich ein Schriftsteller (und in zwei Wochen beim Literaturfest in München zu erleben). Tsilyks Gedichte handeln nicht nur von der "beklemmenden Angst", den Mann an der Front zu wissen. Sie wenden sich auch so wütend wie kämpferisch an eine "werte Dame", der man vermutlich den Namen Westen geben könnte, deren Leben und Alltagsruhe derzeit in der Ukraine schließlich auch verteidigt werde.

Oksana Stomina wiederum zeigt Fotos aus Mariupol. Aus einer brutal zerstörten Stadt, die sie nach einigen im Keller verbrachten Belagerungswochen in letzter Minute verlassen konnte; derzeit lebt die Schriftstellerin in München. Ihr Mann blieb dort, im Stahlwerk Azovstal, er wurde schließlich als Gefangener nach Russland verschleppt. Seit Mai hat Stomina keinen Kontakt mehr zu ihm; Versuche, ihn über das Rote Kreuz zu finden, waren bisher vergeblich. Sie schreibt ihrem Mann jetzt Briefe in Gedichtform, die er hoffentlich irgendwann lesen kann. "Schreiben ist wie über einen Haufen heißer Asche wieder und wieder zu laufen."

Gewalt hat weltweit viele Gesichter, auch das wird bei deutlich bei diesem Festival. Was es bedeutet, im Exil zu leben, machen viele Texte von - vom PEN unterstützten - Autorinnen aus Syrien, Eritrea, Tunesien oder der Türkei deutlich; besonders eindrucksvoll ist der Auftritt der ugandischen Autorin Stella Nyanzi, die seit kurzem, geflüchtet mit ihren drei Kindern, in München lebt. Die Autorin und Verlegerin Tang Siu Wa aus Hongkong erzählt, dass ihre Bücher aus den Bibliotheken entfernt wurden und sie ihren Uni-Lehrauftrag verlor; sie arbeitet nun von Taiwan aus. Und es gibt ja auch noch Themen wie die Folgen des Kolonialismus, den die aus Südkorea stammende US-Autorin Don Mee Choi aufgreift; es gibt sexualisierte Gewalt und Missbrauch, die in Gedichten der Münchner Autorin Theresa Seraphin aufscheinen: "Wie von der Gewalt schreiben, ohne dass die Sprache reißt?"

Indem man den Raum der Sprache ausdehnt. Und neue Formen zulässt, denn bei diesem stimmig komponierten Festival - das neben dem Publikum vor Ort an die zehntausend Livestream-Zugriffe verzeichnet - ist immer auch Platz fürs Experiment, für Schall und Hauch. Grenzgängerinnen wie Alexandra Cárdenas lassen digitale Sound-Kompositionen rauschen, die Laars selbst mit Andreas Ammer wortwörtlich die Alarmsirenen schrillen. Die Performerin Jessie Kleemann aus Grönland dagegen zupft zu beschwörenden Klängen Fäden aus ihrem schwarzen Kleid und verknüpft sie neu.

Das passt gut zum Vernetzungsgedanken von Schamrock. "Lasst uns zusammenarbeiten und eine neue Solidarität von Frauen entwickeln!", dieser Appell von Augusta Laar findet auf mehr als einem Podium ein Echo. Das Festival selbst ist ja längst Teil einer solchen Solidarität. "Where Are We Now?" In diesem Moment, inmitten von Krieg und Krisen, vielleicht einfach mal nur in einem Raum, "in den Ex-Gefangene kommen können und umarmt werden". Das sagt Stella Nyanzi aus Uganda mit einer Kraft, der man sich nicht entziehen kann. Und dröhnend ruft sie aus: "We - Are - Here!"

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