Süddeutsche Zeitung

Literatur:Holz auf den Bütten

Was Schriftsteller so alles in der Lyrik-Bibliothek finden: Nikolai Vogel, Barbra Breeze Anderson und Kolleginnen sind jeweils einen Tag lang auf Spurensuche gegangen und erzählen in Videos von ihren Entdeckungen.

Von Antje Weber, München

Mag sein, dass nicht jeder den "Erfinder der Mittelachse" kennt. Dabei hat Arno Holz doch nur das Wohl der Leser im Blick gehabt: Wenn Verse eines Gedichts sich an einer mittleren Achse orientieren, müssen die Augen am Ende einer Zeile nicht immer ganz so weit nach vorn zur nächsten springen. Interessanter Gedanke - und einer von vielen Gründen, das Video "Ein Tag / One day" mit Nikolai Vogel anzuklicken. Der Münchner Schriftsteller und Bildhauer erinnert darin an den hundert Jahre zuvor dichtenden Kollegen Arno Holz. Einen Tag lang hat sich Vogel durch diverse Ausgaben von dessen Werk "Phantasus" geblättert und erklärt nun im Gespräch mit Moderatorin Noemi Schneider seine Funde.

Was für eine schöne Idee, fünf Dichterinnen und Dichter je einen Tag lang auf "Spurensuche" in die Lyrik-Bibliothek zu schicken und ihre Entdeckungen in knapp halbstündigen Videos mit den Lesern zu teilen. Das kommt genau im richtigen Moment, da Live-Begegnungen seltener werden. Zwei Beiträge zu Nikolai Vogel und Barbra Breeze Anderson stehen bereits online, weitere mit Kevin Perryman, Alma Larsen und Nora Gomringer werden an den nächsten Montagen freigeschaltet. Sie versprechen, wie bereits die ersten beiden Beiträge, sehr unterschiedliche Zugänge zur Bibliothek und überhaupt zur Lyrik.

Spott und Sprachspiel

Wirklich sehr skurril, unterhaltsam und lehrreich ist, was Nikolai Vogel über Langgedichte und insbesondere Arno Holz erzählt. Der beschäftigte sich nicht nur bis zur ersten Veröffentlichung 1898 mit seinen "Phantasus"-Gedichten - sondern ein Leben lang. Die gleichen Gedichte brachte er 1916 noch einmal in verlängerten Versionen im Prachtband heraus - etwas "bizarr" findet das Vogel, denn im Zweiten Weltkrieg war "Papier ja vielleicht auch nicht so üppig verfügbar". Das Buch wurde schnell als "Elephantasus" verspottet, was Holz nicht davon abhielt, weitere, noch umfangreichere Varianten des immer Gleichen vorzulegen. Vogel hält die diversen Ausgaben in die Kamera, liest einiges vor - und bindet dieses ausufernd "sprachspielerische Werk" nicht nur an spätere Werke etwa einer Inger Christensen, sondern auch an das eigene Schaffen an. Zahlen, nur soviel sei noch verraten, spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle.

Ganz andere Interessen leiten die aus Simbabwe stammende Spoken-Word-Poetin Barbra Breeze Anderson bei ihrer Bibliotheks-Auswahl. Sie sucht nach Vorbildern, die sie als junge Autorin in Simbabwe inspiriert haben, Autoren wie Dambudzo Marechera, Chenjerai Hove, Freedom Nyamubaya und Maya Angelou, die über den schwierigen Weg in die und auch nach der Unabhängigkeit des Landes 1980 schrieben. "Man kann nicht in die Zukunft gehen, ohne die Vergangenheit zu kennen", sagt die nicht nur mit solchen Gedanken, sondern auch mit expressiver Gestik einnehmende Poetin. Sie selbst beschäftigt sich mit Fragen der Identität, der kolonialen Vergangenheit und wählt je nach Bedarf eine der drei Sprachen Englisch, Deutsch oder Shona für ein Gedicht. Für das Schreiben eines Textes braucht sie übrigens nur drei, vier Tage. Arno Holz wäre baff.

Ein Tag / One Day: Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek. Online-Videos: www.literaturportal-bayern.de/lyrische-spurensuche oder https://www.youtube.com/channel/UCRaF9f1JU-bxuTB_eCjsFTg.

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