Luise-Kiesselbach-Platz:Leben auf Münchens größter Baustelle

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Seit drei Jahren fressen sich riesige Bohrer durch den Boden unter dem Luise-Kiesselbach-Platz. Wenn sie ihr Werk in drei Jahren vollendet haben, fahren die Autos durch Tunnel. Und die Menschen, die jetzt im Lärm wohnen, haben ihre Ruhe.

Martin Mühlfenzl

Eigentlich will Ernst in Ruhe gelassen werden, gemütlich eine Zigarette rauchen und nur dem bunten Treiben zusehen. Der 89-Jährige hat sich mit seinem Rollstuhl einen schattigen Platz vor dem imposanten Eingangsportal des Altenstifts Sankt Josef gesichert - gewissermaßen in erster Reihe. "Hier bekomm' ich eigentlich alles mit. Und wenn es mir langweilig wird, fahr ich vor an die Garmischer Straße, da sieht man auch ganz gut", sagt der Bewohner des Hauses. Und der Lärm? "Ach, mein Zimmer ist auf der anderen Seite - und man gewöhnt sich doch an alles", erwidert Ernst, zündet sich noch eine Kippe an und rollt davon.

Münchens größte Baustelle: Sechs Jahre werden die Arbeiten am Luise-Kiesselbach-Platz dauern, ehe der Verkehr im Jahr 2015 unter der Erde fließt. (Foto: Robert Haas)

Es gibt sie also doch. Jene Menschen, die an Münchens größter Baustelle ihre gar nicht so heimliche Freude haben. Wer wie der 89-jährige Anwohner ein Leben lang als Arbeiter auf Baustellen verbracht hat, verfolgt die Veränderungen und Fortschritte am und rund um den Luise-Kiesselbach-Platz freilich aufmerksam. "Und es tut sich eigentlich täglich etwas", sagt Ernst. "Nur ein wenig langsam geht es voran."

Jahrelanger Ausnahmezustand

Seit drei Jahren herrscht an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Landeshauptstadt Ausnahmezustand - und der wird auch noch drei Jahre lang andauern. "Tunnelbaumaßnahme am Mittleren Ring Südwest" nennt sich der dritte und vorläufig letzte Bauabschnitt des Ausbaus des Mittleren Rings. Im Jahr 1996 haben die Münchner diesen per Bürgerentscheid herbeigeführt.

Nach dem Petuel-, Effner- und Richard-Strauss-Tunnel wird auch am Luise-Kiesselbach-Platz und in den angrenzenden Trassen Heckenstaller- und Garmischer Straße der Verkehr unter die Erde verlegt - für etwa 398,5 Millionen Euro Baukosten. Das Mammutprojekt ist eine logistische Meisterleistung, schließlich werden die Röhren errichtet, während weiterhin mehr als 170 .000 Fahrzeuge täglich die Baustelle passieren.

Hotelzimmer mit Baustellen-Blick

"Viel Verkehr gab es am Luise-Kiesselbach-Platz schon immer. Warum sollte ich mich darüber aufregen?", sagt Rita Fuchs, verschränkt die Arme vor der Brust und blickt auf die Baustelle, die sich nur wenige Meter vor ihrem Hotel ausbreitet. Noch wirkt die schmale Verbindungsstraße zwischen ihrem Betrieb und der Baustelle wie eine schützende Grenze. Sie verhindert, dass die mächtigen Bohrer, Planierraupen und Bagger zu nahe an das Haus heran gelangen, dessen Fassade ganz schmutzig ist von den Abgasen. Doch diese Barriere wird schon in den nächsten Tagen entfernt - der Luise-Kiesselbach-Platz wird wieder einmal sein Gesicht verändern.

"Ab der kommenden Woche gibt es wieder eine andere Verkehrsführung. Dann rauscht der Verkehr direkt vor unserem Hotel vorbei", erklärt Rita Fuchs. "Wo dann unsere Gäste ihr Gepäck ausladen sollen, ist mir bis jetzt ein Rätsel." Erstaunlicherweise hat die Besitzerin des Hauses Luise aber weder mit Einbußen noch mit Beschwerden zu kämpfen - ihr Hotel ist meist ausgebucht und die Gäste wüssten den Schutz durch mehrfach verstärkte Schallschutzfenster zu würdigen, sagt sie.

"Der Kiesselbach-Platz ist ja ein Münchner Problem. Die Gäste buchen im Internet, da ist kein Foto von der Baustelle dabei", sagt Fuchs. "Und es beschwert sich eh keiner, weil die den ganzen Tag in der Stadt unterwegs sind; von der Baustelle bekommen die nichts mit." Dennoch plant sie, ihr Hotel demnächst zu verkaufen. "Mit dem Kiesselbach-Platz hat das aber überhaupt nichts zu tun. Ich bin seit 40 Jahren hier, und es hat nie ruhige Zeiten gegeben", sagt Fuchs. "Ich bin jetzt 70 Jahre alt und irgendwann muss Schluss sein." Ein Original an der Südseite des Platzes wird dann verschwunden sein - und die neue Zeit, auf die so viele Anwohner und Geschäftsleute hoffen, wohl nicht mehr miterleben.

Zu ihnen gehört Max Heinrich, dem man eine gehörige Portion Mut nicht absprechen kann. Vor wenigen Tagen erst hat der Geschäftsmann mitten am Luise-Kiesselbach-Platz ein neues Café eröffnet, mit sehenswerter Aussicht auf den Bauzaun und die dahinter liegende Großbaustelle. Seine Frau Uta, die den Laden führt, sitzt mit zwei Freundinnen aus dem Münchner Umland vor dem Café, die Unterhaltung der drei Frauen gerät indes immer wieder ins Stocken - im Hintergrund dreht sich eine gewaltige Bohrmaschine mit ohrenbetäubendem Lärm in den Boden.

Als Geschäftsmann kann man Max Heinrich eine gehörige Portion Mut nicht absprechen - er hat eben ein Café eröffnet, mit Baustellen-Beschallung. (Foto: Robert Haas)

"Man muss halt einfach ein wenig lauter reden. Dann geht das schon", sagt die Ladeninhaberin. "Wir lassen uns doch von dem bisschen Krach nicht unterkriegen." Das Paar hat sich selbst viel Geduld auferlegt; denn noch bleiben die Kunden in großer Zahl eher aus. "Uns war klar, dass am Anfang nicht viel los sein wird. Aber es besteht doch Aussicht auf richtig gute Zeiten", sagt Max Heinrich, der neben dem Café ein Geschäft für Heizungstechnik führt. "In drei Jahren wird es hier richtig ruhig sein. So wie in unserem Garten oder bei mir daheim in Murnau."

Seit 40 Jahren lebt der gebürtige Oberbayer zwar in der Landeshauptstadt, seine Freunde in der alten Heimat aber bringen dafür immer noch kein Verständnis auf: "Die halten mich natürlich für verrückt. Erst an den Kiesselbach-Platz ziehen und dann auch noch ein zweites Geschäft aufmachen. Aber ich bin hier daheim und das war schon immer mein Traum."

Denn dieser für den Verkehr so wichtige Platz hat auch ganz andere Seiten - hinter den meist etwas angeschwärzten Fassaden. Café-Besitzer Max Heinrich führt durch seinen kleinen Betrieb, durch die Küche und hinaus in den Garten. Plötzlich ist von der Gewalt der riesigen Baumaschinen nichts mehr zu spüren; die zuvor erlebte Hektik verliert sich in der Ruhe eines kleinen Paradieses, wie Heinrich seinen Garten nennt: "Das ist der Ort, an dem wir zur Ruhe kommen können. Unsere Wohnung liegt auch an der Ostseite, deshalb lässt es sich hier aushalten."

Auf der anderen Seite des Luise-Kiesselbach-Platzes, nur wenige Meter vom Stift Sankt Josef entfernt, beginnt ebenfalls eine neue Welt, weit weg vom Lärm und Gestank der zigtausend Pkw und Lkw, die sich jeden Tag über den Platz und durch die Garmischer und Heckenstallerstraße quälen. Schon im Biergarten des Gasthauses Wöllinger am Ende der Johann-Clanze-Straße herrscht zwischen den hoch aufragenden Bäumen Stille, gleichwohl die Türme des Stiftes am Kiesselbach-Platz noch zu erkennen sind.

Hier ist das bürgerliche München zuhause, trifft sich am Abend auf eine Maß Bier, kauft in der angrenzenden Bäckerei Gattinger am Sonntagmorgen seine Semmeln und im Paradieserl, das an ein kleines Hexenhaus erinnert, Obst und Gemüse. Vor dem Priorat Sankt Pius X. und der Kirche Patrona Bavariae hört man das Plätschern des Brunnens, Rosen zieren die Fassade des Sakralbaus und auf der Straße spielen Kinder Fußball - ohne Angst haben zu müssen, beim Spielen vor ein Auto zu laufen.

"Es gibt auch die schönen Ecken in unserem Viertel. Wir leben zwar mit der Baustelle, aber man darf sich nicht zu sehr von ihr beeinflussen lassen", sagt Sabrina Ehrl, die mit dem Rad auf dem Weg zum Einkaufen ist. Die junge Frau ist gewissermaßen zur gleichen Zeit mit dem Projekt vor drei Jahren an den Platz gezogen, sie wohnt mit ihrem Freund in einer Seitenstraße. "Wenn man es nicht anders kennt, hat man auch keine Probleme damit. Ich muss ja nicht meine Freizeit am Bauzaun verbringen", sagt die 23-Jährige und lacht. Und spätestens um 20 Uhr endet die Schicht der Bauarbeiter, die bereits seit sieben Uhr am Morgen immer weiter in die Tiefe graben. "Dann hören wir nur noch die Autos. Aber das war ja schon immer so."

Geduldsprobe für alle Verkehrsteilnehmer

Doch nicht jeder kann mit der Situation an diesem Verkehrsknotenpunkt so gelassen umgehen. Fußgänger, Radfahrer und natürlich Pkw-Fahrer stellt der Luise-Kiesselbach-Platz nahezu täglich auf die Probe. "Man kommt eigentlich kaum vorwärts, weil sich die meisten auch nicht auskennen", schimpft ein Autofahrer aus dem Fenster heraus, nachdem er wieder keine grüne Welle erwischt hat und hinter offensichtlich kaum ortskundigen Fahrern an der Ampel festhängt. "Die Leute brauchen einfach so lang, um sich an eine neue Verkehrsführung zu gewöhnen, und die wechselt ja quasi täglich."

Das Leid der Autofahrer teilen die Fußgänger nur bedingt, schließlich haben auch sie mit immer neuen Herausforderungen zu kämpfen. Die Suche nach der Bushaltestelle am U-Bahnhof Westpark, wenige hundert Meter vom Kiesselbach-Platz gelegen, gleicht dem Gang durch ein Maislabyrinth. Immer neue Weg tun sich am Rande der Straße auf, kleine Hinweisschilder sollen die Suche erleichtern, ehe nach unzähligen Wendungen die provisorische Haltestelle auftaucht.

Die Stadt München gibt sich größte Mühe, die Anwohner und Geschäftstreibenden über die aktuellen Entwicklungen zu informieren und ihnen ein Forum zu bieten, in dem sie ihre Bedenken und Sorgen äußern können. Jeweils zwei Stunden, dienstags von 10 bis 12 Uhr und donnerstags von 16 bis 18 Uhr, ist der Infocontainer am Luise-Kiesselbach-Platz geöffnet, im Baureferat kümmern sich zwei Mitarbeiter um die Belange der Bürger.

"Für uns ist das schon wichtig, dass wir uns auch vor Ort an jemanden wenden können", sagt Marianne Frank, die in der Garmischer Straße zuhause ist und im Container in Erfahrung bringen will, ob die Ampelschaltungen nicht fußgängerfreundlicher gestaltet werden können. "Hier hat man immer ein offenes Ohr für uns, und die Mitarbeiter haben auch kurze Wege bis ins Kreisverwaltungsreferat", berichtet Frank. "Bisher ist die Stadt immer auf unsere Wünsche eingegangen."

Auch diese Bereitschaft, sich kümmern zu wollen, hat die Münchnerin bisher davon abgehalten, sich eine neue, ruhigere Bleibe in einem anderen Stadtteil zu suchen. Wie auch Stefan Mehringer, der in einem der Hochhäuser seine Praxis als Hausarzt und für Innere Medizin betreibt. "Solche Pläne habe ich nie gehabt. Wir wissen ja alle, die wir hier wohnen und arbeiten, dass es irgendwann vorbei sein wird", sagt der Mediziner.

Die Belastung für die Menschen sei aber enorm, berichtet Mehringer und öffnet, um diese These zu unterstreichen, das Fenster des Wartezimmers nur einen Spalt breit: Ein akustischer Schlag. "Der Krach, die Abgase, der Staub - all das kann natürlich die Gesundheit gefährden", sagt Mehringer. "Der Mensch muss schon hart im Nehmen sein." Und voller Hoffnung. Denn darauf bauen alle Anwohner: Auf ein Ende der Arbeiten und des Ausnahmezustandes in drei Jahren - und einen neuen, schönen und ruhigen Platz.

© SZ vom 13.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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