Süddeutsche Zeitung

Ludwigsvorstadt/Isarvorstadt:Daheim auf der Wiesn

Die Bewohner der Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt können eine Woche lang über die Theresienwiese gebieten. Ihr gut besuchtes Stadtteilfest feiern sie aber auch noch an anderen Veranstaltungsorten. Ein Rundgang

Von Birgit Lotze, Ludwigsvorstadt/Isarvorstadt

Normalerweise müssen die Anlieger der Theresienwiese Feste ertragen. Die Stadt bestimmt über die Belegung ihres Festgeländes, die Menschen im Stadtteil haben da wenig mitzureden. Meist wird bei diesen Festivitäten viel Geld umgesetzt, dem Viertel bleiben lediglich Lärm, Unruhe, Menschenmassen und Müll. Das Viertel, in dem die meisten Wiesn-Anlieger wohnen, - Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt - kann derzeit für eine Woche das Gelände selbst bespielen. Das Stadtteilfest begann am Freitag mit Sonne, ein scharfzüngiger Christian Springer rüttelte mehr als 500 Menschen mit politischem Kabarett auf. Der Samstag fiel ins Wasser, die "Münchner Ruhestörung" trommelte mit afro-brasilianischen Rhythmen gegen den Regen an, als wollte sie die Anwohner aus ihren Wohnungen ins Festzelt holen. Die Münchner Bahnhofskapelle wurde dann von Hunderten Besuchern vom ersten Blues-Akkord an begeistert beklatscht. Tags darauf gab es dann doch noch Gelegenheit, die Bierbänke und die vielen Spielgeräte zu nutzen. Die regenunabhängigen Veranstaltungen außerhalb der Festwiese waren durchwegs gut besucht:

Anatomische Sektion

"Hier sind wir richtig. Hier schaut ja schon das Publikum so impro aus", sagt ein junger Zuschauer am Eingang zur Alten Anatomie an der Pettenkoferstraße. Mancher war etwas enttäuscht, weil die Mediziner nicht den auffälligen Kuppelsaal, in dem sonst Studenten Leichen sezieren, zur Verfügung gestellt hatten. So spielt das Fastfood-Theater Improvisation bei sehr guter Akustik vor der anatomischen Sammlung. Man glaubt, das Formalin förmlich zu riechen. "Ich bin nicht nur Arterie, Herz und Milz", sagt eine Impro-Leiche in anklagendem Ton zu dem "Professor", der sie aufgeschnitten hat. "Meine Zwischenräume wurden überhaupt nicht beachtet."

Mit dem Floß nach Wien

Einige Leichen holen auch Martin Arz und Dieter Weißbach während ihrer Lesung an der Arndtstraße aus dem Keller - oder aus dem nahe gelegenen Glockenbach. Die beiden Autoren stellen im eng gedrängten, weil kleinem Hirschkäfer-Verlag mit Petra Winklbauer ihre neuesten Krimis vor. Da Arz auch Sachbuchautor von Stadtviertelbüchern ist und früher - kaum 200 Meter entfernt vom Verlagsladen - eine Floßlände lag, erfahren die Zuhörer auch einiges über Flößerei. Unter anderem, dass man früher auch von München nach Wien fahren konnte. Die Fahrt wurde erst 1910 eingestellt. Dauer: rund sechs Tage.

Frei-gestimmt

Was ist "Singen aus dem Moment heraus"? In jedem Fall interessiert das Frauen weit mehr als Männer. Neun zu eins ist die Quote im AUM-Seminar an der Schützenstraße. Klar wird schnell: Es ist nicht wie unter der Dusche singen, es sind viele andere Menschen dabei und hören mit. Was man von sich gibt, klingt nicht unbedingt musikalisch, auch nicht sinnvoll, eher nach Gebrabbel. Man kann lallen, fiepen, tirilieren - alles ist erlaubt. Einer gibt die erste Tonfolge vor, das erste Pattern, andere fallen ein. Heraus kommt Erstaunliches, gemessen am Beitrag des Einzelnen: Chorgesänge, vielstimmig, harmonisch, abwechslungsreich, es kann auch nach Modern Jazz, Soul, Oper oder Filmmusik klingen. Und man lernt spielerisch musikalische Grundlagen wie Rhythmus und Harmonie.

Viertel-Poesie

"Jeder Mensch ist ein Poet", behauptet Katharina Schweissguth. Auf der Bühne im "Stiagnhaus" des Vereins Kulturraum an der Zenettistraße, in diesem Fall ein Treppenabsatz, kann sich jeder ausprobieren. Beinahe 30 Poesiefreunde und Poeten jeden Alters lesen Verse und Texte - erlaubt ist alles, auch eine "Hommage an den Leberkäs'", schließlich ist der Schlachthof gleich nebenan. Heraus ragt Gied, einen Nachnamen hat er nicht, der unter einem Schirm heraus Worte regnen lässt, spontan, ohne jegliche Vorbereitung, alles im Reim. Er rezitiert Verse, nach denen man sich manchmal selbst schenken solle "und dabei bleibt, dass man sich übertreibt". Auf Nachfrage erklärt er, es könne Lebendigkeit auslösen, wenn man sich in das Risiko begebe, auf der Bühne zu scheitern.

Saunagang

Es gibt fünf Hotels namens "Deutsche Eiche" in München, doch nur eines, wo jährlich mehrere Millionen Euro umgesetzt werden. Egal, wie man zur Schwulenszene und einem ihrer ältesten Treffpunkte steht - der Vortrag und der Rundgang mit Geschäftsführer Dietmar Holzapfel eröffnen den meisten Besuchern neue Welten. "Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es in München so etwas gibt", sagt eine alteingesessene Ludwigsvorstädterin. Es ist nicht nur die 1400 Quadratmeter große Sauna über vier Etagen in einem der teuersten Viertel Münchens direkt am Gärtnerplatz - ein elementarer Geschäftszweig neben dem Hotel und dem Restaurant. Auch Holzapfel selbst erstaunt die Besucher mit Berichten zur Szene und zur Stadtgeschichte und spickt sie mit Anekdoten aus dem Hotelleben. Dass er auch sämtliche Kirchtürme der Stadt kennt, beweist er am Ende des Rundgangs auf der Hotel-Dachterrasse (noch bis Donnerstag täglich um 10 Uhr, Anmeldung unter Telefon 231 16 60).

Bis Donnerstag, 16. Juni, sind noch viele Führungen durchs Viertel, ein Podium zur Gentrifizierung, Theater, Lesungen und Konzerte im Programm der Stadtteilwoche - alles kostenlos. Die Zelte auf der Festwiese sind täglich von 17 bis 23.30 Uhr geöffnet (www.

muenchen.de/stadtteilkultur).

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Quelle:
SZ vom 13.06.2016
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