Ludwigsfeld:Für die Freunde von der Straße

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Seit 35 Jahren kümmern sich die Schwestern und Brüder vom heiligen Benedikt Labre um Münchner Obdachlose. Der Verein arbeitet ohne Träger und ist daher auf Spenden und den Verkauf gebrauchter Waren angewiesen

Von Kilian Beck, Ludwigsfeld

"Welche Lampe möchten Sie?", fragt Stefan Hledik einen Flohmarktkunden. Der zeigt auf eine, und Hledik streckt sich von der Leiter danach aus. Seine grauen Locken streifen die Decke. Er reicht dem Kunden eine Lampe mit Keramikschirm. "Die kostet 30 Euro", sagt Brigitte Schneider hinter der Plexiglasscheibe ihrer Kasse. Der Kunde bezahlt und verlässt die Flohmarkthalle. Zu Schneiders Linken steht eine wuchtige Registrierkasse, zu ihrer Rechten hängen drei Fotos: Eines zeigt ihren verstorbenen Bruder Walter Lorenz. "Er hat mich damals zum Verein geholt", erzählt Schneider. Seit 30 Jahren hilft die Rentnerin nun schon als Ehrenamtliche bei den Schwestern und Brüdern vom heiligen Benedikt Labre.

Der Verein kümmert sich um Münchner Obdachlose und bietet denen, die es wollen, ein Zuhause. "Wir arbeiten ohne Träger und sind deshalb auf Spenden und den Flohmarkt angewiesen", sagt Vorstandsmitglied Hledik. 1985 hat Walter Lorenz, genannt "Tee-Walter", den Verein gegründet und das erste Wohnhaus an der Milbertshofener Pommernstraße eröffnet. Seinen Spitznamen bekam Lorenz von den Obdachlosen, denen er Tee auf die Straßen Münchens brachte. Jeden Sonntagabend fuhr er selbst, an den restlichen Abenden der Woche übernahmen Ehrenamtliche die Tour. Bis heute verlässt sich der Verein auf ehrenamtliches Engagement. Das Gelände auf den Schrederwiesen hat die Erzdiözese München-Freising Lorenz 1988 überlassen. Dort stehen inzwischen fünf Gebäude um den gekiesten Hof: die Flohmarkthalle, eine Werkstatt und drei Wohnhäuser. In zwei davon leben die Männer, denen der Verein ein Zuhause bietet und so auch Lorenz' Erbe weiterführt. Er starb im Februar 2019 mit 75 Jahren.

An der Kasse klingelt das Telefon. Schneider nimmt ab, hört zu. "Dann kommen sie am besten vorbei und messen die Schränke selbst aus", antwortet sie. Das Dachgeschoss der Halle ist voller Möbel. Der Verein bekommt sie gespendet und arbeitet sie dann in der Werkstatt auf. Dort steht Hledik neben einem frisch abgeschliffenen Schrank. "Einer unserer Männer lackiert den noch, und dann kommt der rüber auf den Flohmarkt", sagt er. Jeder der Männer - gemeint sind die Bewohner - arbeite fünf Stunden am Tag für die Gemeinschaft, so entstünden Alltag und Ausgleich, erklärt Hledik. Er kümmert sich um Schreinerei und Flohmarkt.

Auf der anderen Seite des Raums surrt ein Akkuschrauber, den hält Veronika Hledik, Stefans 21-jährige Tochter. "Wir bauen gerade ein Küchenregal für einen Mann, der jetzt eine eigene Wohnung hat", erzählt die gelernte Schreinerin, als sie eine Schraube in die Pressspanplatte versenkt. Als sie mit dem Regal fertig ist, weicht Thomas Stark einen Aufkleber auf der Platte ein. "Ich werde gerade ein bisschen angelernt", sagt er. Normalerweise arbeite er im Büro im Haus an der Pommernstraße, erklärt Stark. Seine Ausbildung zum Bürokaufmann hat er noch bei der Stadt München absolviert. Dann habe er schnell gemerkt, dass ein normaler Bürojob nichts für ihn sei, erzählt er. "Hier sehe ich direkt, für wen ich etwas mache, und das tut gut", sagt Stark. Im Vereinsbüro helfe er den Bewohnern beim Ausfüllen von Anträgen und kümmere sich um das, was sonst noch so anfalle.

"Ich muss kurz rüber, die Waschmaschine funktioniert nicht mehr", sagt Stefan Hledik. Auf der anderen Seite des Hofes im Erdgeschoss des hölzernen Wohnhauses liegt die Waschküche. Sie ist der einzige Raum im Erdgeschoss, ansonsten ist es bis auf die tragenden Balken abgerissen. Handwerker wuseln herum. "Wir hatten vor ein paar Wochen einen riesigen Wasserschaden", erzählt Hledik. Im ersten Stock wohnen die Menschen, denen der Verein Obdach bietet, in kleinen Einzelzimmern, mit geteilten Bädern. Das Haus wurde in den Neunzigerjahren aus den Bauteilen einer ausgedienten Notkirche aus dem Münchner Osten zusammengesetzt, die Walter Lorenz gespendet worden war.

Einer der neun Bewohner ist Klaus, genannt "Kerzen-Klaus". Seinen Nachnamen möchte er für sich behalten. "Wenn es mir hier nicht gefallen würde, wäre ich nicht 25 Jahre geblieben", sagt der 75-Jährige. In seiner Kerzenwerkstatt in der Schreinerei schneidet er eine Wachsplatte in daumennagelgroße Würfel. Sein Hochdeutsch mit westfälischem Einschlag verrät: Er stammt nicht aus Bayern. Seine Mutter sei aus dem damaligen Ostpreußen vertrieben worden, erzählt er. Zur Welt gekommen ist er in Göttingen, seine Jugend verbrachte er im westfälischen Iserlohn. "Irgendwann brauchte ich dann eine Luftveränderung - so bin ich nach München gekommen", sagt Klaus. Aus einem Topf kippt er rotes Kerzenwachs in eine mit Wachswürfeln gefüllte Form. "Die Kerze wird auf dem Flohmarkt verkauft oder zu Weihnachten an Spender verschenkt", erklärt er. 25 Jahre ist es her, dass er Walter Lorenz in einem Kloster nahe dem Sendlinger Tor getroffen hat. Es ist ein kalter Novembertag, als Klaus den Gottesdienst mit anschließendem Frühstück besucht. "Da hat mich Walter angesprochen, und dann bin ich mit - und seitdem nicht mehr weggegangen", erinnert er sich.

Bis vor zwölf Jahren saß Brigitte Schneider selbst in der "Möwe Jonathan", wie der Verein den Bus nennt, mit dem Tee und belegte Brote - früher auch noch Eintopf - auf Münchens Straßen ausgefahren werden. "Das war damals noch eine Klapperkiste. Im Winter haben wir uns immer beeilt, damit der Eintopf nicht kalt wird", erzählt sie. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine nächtliche Begegnung unter der Wittelsbacherbrücke: Beim Verteilen des Eintopf vor der "Möwe Jonathan" entdeckt Schneider eine schwangere Frau. An diesem Tag ist Schneider mit ihrem Bruder unterwegs. "Walter hat dann versucht, sie dazu zu bewegen, in eines der Häuser zu kommen", sagt Schneider. Lorenz konnte die junge Frau nicht überzeugen. "Ich weiß nicht, wie es mit ihr weiter ging. So etwas geht nicht spurlos an einem vorbei", sagt Schneider.

Die heutige "Möwe Jonathan", ein blauer Transporter, steht hinter einem in Pink lackierten Tor an der Pommernstraße. Genau wie zu Walter Lorenz' Lebzeiten fährt sie jeden Abend durch die Stadt und versorgt die Menschen, die es brauchen, mit dem Nötigsten. Hinterm Steuer sitzen abwechselnd circa 50 Ehrenamtliche. Thomas Jörg und Maria Jung sind zwei von ihnen, sie fahren alle zwei Wochen. Die ersten beiden Ziele an diesem Tag: Klöster, die belegte Brote, Süßigkeiten, Obst und Tee spenden. An der ersten Ausgabestation im Glockenbachviertel begrüßt Jung die zehn Menschen, die sie schon erwarten. "Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr" sagt ein Mann mit hagerem Gesicht und zur Tolle nach hinten gekämmtem grauem Haar, als sie belegte Brote verteilt. "Ach nein, wir waren bloß im Urlaub", antwortet Jung und lächelt den Mann an. Zurück im Bus auf dem Weg zur nächsten Station sagt sie: "Wir haben letzte Woche einen Termin verpasst, und es fällt den Leuten dann direkt auf."

Einige Stationen weiter wartet schon Peter Zwickel. Er bedankt sich freundlich bei Jung für sein Abendbrot. "Ich habe zwar eine Wohnung, aber meistens reicht das Geld nicht mehr, um Essen zu kaufen", sagt er. Der 68-Jährige hat sein Leben lang als freischaffender Kameramann gearbeitet. "Ich habe das Geld verlebt und jetzt ist nichts mehr davon übrig", erzählt er, seine Augen werden feucht, während er spricht. "Gerade ihr jungen Leute solltet darauf achten, im Alter noch was zu haben, macht nicht dieselben Fehler wie ich", wirft er in die Runde um die Essensausgabe. Dann verabschiedet er sich, und das Gewusel der Stadt verschluckt ihn.

© SZ vom 23.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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