Löwen-Fan Hermann Wiesheu:Einmal Löwe, immer Löwe

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Niemand ist so lange beim TSV 1860 Mitglied wie der frühere Gewichtheber Hermann Wiesheu. Er ist den Löwen seit 1929 treu und hat mehr als die Hälfte der Vereinsgeschichte miterlebt.

G. Kleffmann

Rüstig schaut Hermann Wiesheu aus, als er aus seinem verrauchten Zimmer kommt und einem die Hand entgegenstreckt, in seinem Haus in der Schillerstraße in Eichenau. Er grinst neugierig, interessiert, ja fast frech. Sein Gang ist wacklig, aber wer will es ihm verdenken?

2009 wurde Wiesheu von 1860-Präsident Rainer Beeck für 80 Jahre Löwen-Dasein ausgezeichnet. (Foto: Foto: oh)

Er ist Jahrgang 1915, er stammt aus einer Zeit, die heute nur in Schwarz-Weiß-Bildern existiert. Bald wird er 95. "So, Sie woll'n mich also über Sechzig was fragen", sagt Wiesheu fröhlich, und dann führt er einen ins rustikal eingerichtete Wohnzimmer. Auf dem Tisch sind Zeitungsartikel von früher bereitgelegt, einsortiert in einer Mappe.

Die vergilbten Blätter lassen erahnen: Dieser kleine, kompakte Mann, der seit 1929 Mitglied bei 1860 München ist, hat sein ganzes Leben mit den Löwen verbracht - und er ist, zu Recht natürlich, stolz darauf.

150 Jahre wird der TSV 1860 am 17. Mai alt. Wenn man bedenkt, dass Wiesheu mehr als die Hälfte davon miterlebt hat, damit der dienstälteste Löwe ist und deshalb 2009 von 1860-Präsident Rainer Beeck für 80 Jahre Löwen-Dasein ausgezeichnet wurde, ahnt man, welche Erinnerungen in ihm stecken. Die Zeit hat zwar angefangen, diese etwas auszulöschen, aber noch immer bewegt es Wiesheu, wenn er an früher denkt.

Der Sohn eines Bierbrauers wuchs in der Blumenstraße auf, "der TSV war ja in der Auenstraße, das war ein Katzensprung", sagt Wiesheu, der als Bub vieles ausprobierte, insbesondere die Leichtathletik-Disziplinen. Von Beginn an hatte ihm das gefallen, das breite Sportangebot bei Sechzig, "das war einer der großen Klubs in Deutschlands", was ihn aber nicht davon abhielt, sich mit 14 zu spezialisieren.

Wiesheu schloss sich - ein Entschluss mit Folgen - den Gewichthebern an, nachdem ihn "der Hartmann Robert", der Trainer, mit dem Hinweis gelockt hatte, er habe "unbändiges Talent". Jahre später sammelte Wiesheu Titel wie den deutschen Einzeltitel im Federgewicht und wurde Teil einer Historie, die den Verein noch immer mit Ruhm schmückt.

Wie Wiesheu so von seinen Kollegen schwärmt, mit denen er mehrmals deutscher Mannschaftsmeister im Gewichtheben geworden war, mit dem Huttner, dem Landwirt, dem Gietl, dem Polizisten ("den habe ich an der Front getroffen"), dem Schuster, dem Wölpert und dem Straßberger, diesem Prachtkerl von einem bayerischen Wirt, fragt man sich, ob nicht mal ein Helmut Dietl diese illustren Vögel in ein Drehbuch packen und deren Geschichte verfilmen könnte.

Auch wenn es heute aberwitzig klingt, aber die Gewichtheber der Löwen waren eine Attraktion und flanierten, wie heute die Fußballer des FC Bayern nach einer siegreichen Meisterschaft, schon mal als Vorzeigeabteilung auf der Ludwigstraße, die breiten Brüste nur von Muskelhemden bedeckt. Weil sie regelmäßig den Erzrivalen aus Essen im Finale niederwuchteten, unter dem Getöse ihrer Anhänger, schufen sie sich sogar deutschlandweit Respekt.

Der Löwe, der Gewichte drückende, reißende, stoßende, der war was in den dreißiger Jahren. Insbesondere der Straßberger Josef, ein Mensch gewordener Fleischklops "mit einer Riesenseele", wie Wiesheu schwört, sei eine Art Star gewesen, ohne Sponsoren freilich, aber durchaus mit Allüren. "Wenn der was gesagt hat, haben alle pariert", erzählt Wiesheu und schmunzelt.

Straßberger war in der Tat der Stärkste, 1928 krönte er sich gar zum Olympiasieger in Amsterdam, als er 372,5 Kilo stemmte. Und er hatte Herz. So habe Straßberger oft "in seine Taschen gegriffen und was springen lassen", Geld hatte er, der Schützenhof in der Bayerstraße lief bestens, hier, beim Bahnhof, traf sich die trinkfreudige Gesellschaft.

Legendär waren die Dopingmittel, auf die Straßberger schwor: Rühreier mit Zucker, dazu ein Schuss Cognac. "Uns hat er immer Fleischsuppe mitgebracht", sagt Wiesheu, "vor jedem Kampf mussten wir ein Glas trinken." Hat's geholfen? "Freilich, die Einbildung hat Kräfte freigesetzt."

Gesoffen haben die Gewichtheber indes nicht so viel, wie man vermuten mag, "wir haben Wert auf Disziplin gelegt und viel trainiert", stellt Wiesheu klar. So muss es gewesen sein, denn selbst ein Zweiter Weltkrieg konnte Wiesheus Kräfte nicht ankratzen. "Ich war kein einziges Mal krank", sagt er und wiederholt diesen Satz später noch zweimal.

Er ist darauf fast so stolz wie auf seine Titel, aber Wiesheu hatte auch Glück im Krieg, das gibt er zu. Er wurde als Horcher eingesetzt, sein Vorgesetzter hatte dafür gesorgt, der selbst ein Kraftsportler war, und daher musste er meist nur gegnerische Funksprüche abhören, in München, später auch in Russland und in Rumänien. In brenzlige Lagen kam er nie.

Als der Krieg vorbei war, setzte Wiesheu sein Leben so fort, wie er zuvor gelebt hatte, ein todsicherer Beleg, wie bodenständig und loyal der Löwe ist. Er kehrte wieder zur Bayerischen Landwirtschaftsbank zurück, wo er gelernt hatte, bis zur Rente blieb er in der Hypothekenabteilung. Von 1860 distanzierte er sich räumlich, lebte fortan in Eichenau, im Münchner Westen.

Glücklich und zufrieden baute er beim ESV eine Gewichtheberabteilung auf, die alsbald Erfolge zu verzeichnen hatte. Wenngleich der Ruhm, der auf ihn abfallen sollte, nie mehr so war wie damals, als Wiesheu und der Straßberger und die anderen die Massen in den Löwenbräukeller lockten.

Dass er nie die Mitgliedschaft bei 1860 kündigte, versteht sich bei einem wie ihm von alleine, dabei ist es nicht so, dass es keinen Grund gegeben hätte hinzuschmeißen. Der Löwe kann jeden in den Wahnsinn treiben, und dieser Punkt war erreicht, als Ende der neunziger Jahre die 1860-Gewichtheber-Abteilung aufgelöst und ein Stück Vereinskultur im Archiv abgelegt wurde wie ein Pokal. Wiesheu blieb trotzdem ein Sechziger, bis jetzt, seine Kinder, die neben ihm im Haus wohnen, sind alle auch Blaue. Der Generationenwechsel hat geklappt.

Und heute? Was sagt er zu den Fußballern, deren Erfolge er jahrelang bejubelt hat, den Pokalsieg 1942, die Meisterschaft 1966, die Erstligazeit? "Mei, da ist schon vieles, was mich enttäuscht", sagt Wiesheu, "die streiten sich so viel, und die Fußballer kriegen so viel Geld." Und von überall her kämen sie ja inzwischen, nur nicht aus Giesing, aus München oder wenigstens aus Bayern.

Einen wie den Rockinger Josef, der in den Vierzigern wirbelte und den er gut kannte, solche kernige Typen vermisst er. Aber unterkriegen lassen deshalb? Wiesheu lacht. Als man ihm zuruft, eine Fotografin komme noch vorbei, um ihn abzulichten, ruft er: "Aber schicken S' eine hübsche."

© SZ vom 04.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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