Was können wir aus der Geschichte der Widerstandsgruppe Weiße Rose für unsere Zukunft lernen? Diese Frage stellt der Historiker Kiran Klaus Patel am Dienstagabend bei der diesjährigen Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung im vollen Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).
Vor beinahe 82 Jahren wurden die Geschwister Hans und Sophie Scholl und ihr Kommilitone Christoph Probst nach dem Auslegen des sechsten und letzten Flugblatts ihrer Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime festgenommen. Am 22. Februar 1943 wurden sie hingerichtet, wie auch später ihre Kommilitonen Alexander Schmorell, Willi Graf und Hans Leipelt sowie der LMU-Professor Kurt Huber.
„Wir leben in einer Zeit, in der Freiheit fragil geworden ist“, sagt Patel. Der mühsam erkämpfte kritische Umgang mit der NS-Zeit sei in Gefahr, rechte Ideen seien auf dem Vormarsch. Doch die Weiße Rose könne noch heute Antworten liefern. Ihre Flugblätter, so Patel, seien universalistisch gedacht und gälten auch heute noch als „Aufruf zur kritischen Überprüfung des eigenen Handelns“.
Ein Großteil der damaligen Gesellschaft habe sich eingereiht in den „totalen wie antiliberalen Gesellschaftsentwurf“ des Nationalsozialismus. Die Menschen seien nicht nur passiv gewesen. „Die Unterdrückung des NS-Regimes war auf Selbstmobilisierung angewiesen.“ Patel, seit 2019 Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU, verweist auf den Prozess, den auch die Geschwister Scholl – zu Beginn ihrer Jugend vom NS-Regime begeistert – im Laufe ihres Erwachsenwerdens durchliefen.
Sie, die von Kindesbeinen an der gesellschaftlichen Indoktrination des Nationalsozialismus ausgesetzt waren, gingen dennoch später den Weg des Widerstands. „Die Weiße Rose“, so Patel, „war eine einsame Insel in einem Gros aus Wegschauenden.“ Ihre Flugblätter seien als Fundamentalkritik am Regime zu verstehen. Bildung und Wissen dienten zur Abwehr der Diktatur und als Hilfestellung zur Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Bereits zu Beginn der 1940er-Jahre verdeutlichte die Weiße Rose mit Zitaten des chinesischen Philosophen Lao-Tse ihre universalistische und transnationale Idee. Diese sei vor allem in der heutigen postmigrantischen Gesellschaft von Bedeutung, sagt Patel. Er zeigt dies am Beispiel seiner eigenen Familie, in der sich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs eine LMU-Studentin sowie auch eine junge Mutter in Uganda, ein überzeugter Wehrmachtssoldat sowie auch ein Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime befanden.
„Erinnerung ist immer brüchig“, so Patel. Diejenigen, die heute so alt seien, wie die Geschwister Scholl es damals waren, gehörten zur letzten Generation, die noch Gespräche mit Zeitzeugen führen könne. Man müsse die Erinnerung jedoch nicht nur bewahren, sondern auch in die Zukunft denken.

Kunstaktion:Weiße Koffer sollen an ermordete Juden erinnern
Der Künstler Wolfram Kastner will mit Installationen vor Wohnhäusern in Schwabing der jüdischen Münchner gedenken, die von Nationalsozialisten verschleppt und getötet wurden. Bürger sind zum Mitmachen aufgerufen.
Der Historiker zitiert den Philosophen Karl Marx: „Alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen ereignen sich sozusagen zweimal: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Der Mangel an Freiheit in der NS-Zeit habe zur Folge gehabt, dass auch kleine Entscheidungen über Leben oder Tod bestimmen konnten. Dies sei heute anders. „Doch wir dürfen auf die Farce nicht hoffen“, so Patel. Auch die SPD habe 1933 geglaubt, sie könne wie bei früheren Repressionen eher gestärkt aus der Situation hervorgehen. Nur wenig später folgte das böse Erwachen.
Deshalb könne man sich auch heute nicht auf der Hoffnung ausruhen, aus der Geschichte gelernt zu haben. „Machen wir es uns nicht zu einfach“, fordert Patel. Universitäten böten Räume zum Lehren, Forschen und Gedenken. Doch man müsse auch bereit sein, die Denkräume umzubauen, die Komfortzone zu verlassen. Veränderungen in der Kommunikation böten heute neue Möglichkeiten, auch für Abhörmethoden oder Fake News.
Putins Einmarsch in der Ukraine sei ein Beispiel dafür, wie indoktrinierte falsche Geschichtsbilder als Vorwand für einen Krieg dienen könnten. „Glaubt nicht der Propaganda“, hieß es schon damals in den Flugblättern der Weißen Rose. Die heutige Gesellschaft fordere immer einfachere Identifikationsangebote. Diese aber, sagt Patel „bieten keine Orientierung“.
Es sei die Aufgabe der Universitäten gesichertes Wissen in den gesellschaftlichen Diskurs einzuführen, der – heute wie damals – zu vergiften drohe. „Demut vor der Vergangenheit heißt, auch das Kantige anzuerkennen.“
Die LMU war ihrerzeit der Kristallisationspunkt der Weißen Rose. Hier entfalteten die Mitglieder ihre Ideen, die dem diktatorischen System des NS-Regimes entgegenstanden. Auch heute sei es die Aufgabe von Unis, den Raum für eigene Ideen zu öffnen, so Patel. Man brauche „den Mut zu handeln und die Kraft, frei zu denken“. Dies sei, schließt Patel, das Beste, was Unis hervorbringen können. Und: „Es ist unsere Verpflichtung.“