Zum Probesitzen hat die 17-jährige Joana Scholz hinter dem Steuer eines Lastkraftwagens der Spedition Ludwig Höcketstaller Platz genommen. „Es sieht sehr gemütlich aus“, sagt sie. Tatsächlich gleicht die Fahrerkabine einer kleinen Wohnung auf Rädern. Hinter den Sitzen befindet sich ein Bett, zwischen Fahrer- und Beifahrersitz stehen eine Filterkaffeemaschine und ein Aschenbecher, auf dem Armaturenbrett reihen sich gerahmte Fotos neben elektrischen Kerzen und Räucherstäbchen.
Joana Scholz ist an diesem Samstag zufällig auf die Mobilitätsveranstaltung im Olympiapark gestoßen. Hier stellen Logistikbetriebe, Busunternehmen und Entsorgungsbetriebe die verschiedenen Berufe vor. Die Branche steht vor einer großen Herausforderung, es fehlen Fahrer und Fahrerinnen. Doch ohne Transport und Logistik würde die Wirtschaft nicht mehr funktionieren. Die Regale im Supermarkt würden leer bleiben, die Mülltonnen nicht geleert werden und Menschen nicht an ihren Arbeitsplatz oder ihr Reiseziel kommen.
Aktuell macht Joana Scholz eine Ausbildung im Einzelhandel, findet den Beruf der Lastkraftfahrerin aber durchaus interessant. Die Leute seien sehr freundlich, man komme schnell ins Gespräch, sagt sie. Der Lkw, in dem Joana Scholz probe sitzt, gehört zu Andreas Schubeck, der schon seit 24 Jahren den Beruf ausübt. „Ich könnte mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen“, sagt er. Am meisten schätze er die freie Zeiteinteilung und die Freiheit, seinen Tagesablauf selbst zu gestalten. Wenn man müde sei, könne man sich beispielsweise hinlegen. Lediglich Kundentermine müsse er einhalten. „Jeder Tag ist eine neue Herausforderung, jeder Tag ist anders.“ Der Lkw wird dabei tatsächlich ein zweites Zuhause, er verbringe 90 Prozent des Jahres in der Fahrerkabine. Die Work-Life-Balance sei schwieriger, das könne am Anfang abschreckend sein, sagt er.
Gerade für Frauen ist das häufig eine Hürde. Junge Frauen wie Joana Scholz werden aber dringend gesucht. Länger unterwegs zu sein, sieht auch sie als Nachteil des Berufs. Als Berufskraftfahrer gebe es jedoch einen Unterschied zwischen dem Fern- und dem Nahverkehr, erklärt Andreas Schubeck. Im Nahverkehr sei man in der Regel jeden Tag zu Hause, im Fernverkehr nur am Wochenende.
Familienkonstellationen seien immer schwieriger, sagt auch Katrin Höhensteiger. Sie führt zusammen mit ihrer Mutter Christa Höcketstaller in dritter Generation das Unternehmen ihres Großvaters weiter. Der Fahrermangel stellt für sie eine Herausforderung dar. Fahrerinnen hätten sie aktuell keine, würden es sich aber wünschen. In ihrer Spedition habe jeder der 40 Fahrer ein eigenes Fahrzeug und dürfe es sich nach eigenen Wünschen zusammenstellen. Um die 150 000 Euro koste so ein Lastkraftwagen, erklärt sie. Bei der Veranstaltung auf dem Hans-Jochen-Vogel-Platz hoffen sie nun auf neue Bewerberinnen und Bewerber.
Wer nicht nur probe sitzen, sondern auch fahren möchte, der kann auf der Veranstaltung im Fahrsimulator das Gefühl hautnah erleben. Am Stand des Münchner Bildungsträgers „Auf Achse“ können Besucher zwischen verschiedenen Fahrzeugen wie Lkw, Gabelstapler oder Rettungswagen wählen. Sung-Hi Kim hilft einer Besucherin in den Sitz des Simulators und stellt die Virtual-Reality-Brille ein. Nach einer kurzen Einweisung geht es los. „Sie können hinfahren, wo sie wollen“, sagt er. Die Aufgabe: Freies Fahren auf der Landstraße.
Durch die VR-Brille fühlt es sich genauso an, wie hinter dem Steuer eines echten Lkws. An der Kreuzung wartet schon die erste Herausforderung, das Abbiegen. „Wie groß bin ich denn?“, fragt die Besucherin. „Das kriege ich doch gar nicht hin, da kommen ständig Autos.“ Sung-Hi Kim beobachtet das Szenario und gibt Hilfestellung. „Jetzt können Sie.“
Das Lenkgefühl sei genau wie das echte, sagt er. Der Fahrsimulator ermögliche, direkt die Dimensionen zu erfahren und ein besseres Gefühl für das Fahrzeug zu bekommen. So seien die Berufseinsteiger in der ersten Fahrstunde sicherer und machten weniger Fehler. Der Simulator ist bei ihnen deswegen fester Bestandteil der Ausbildung. „Auf Achse“ bietet diverse Führerscheine und Zusatzqualifikationen für Berufskraftfahrer an. Sie seien eine der ersten Fahrschulen, die den Simulator in München anbieten, sagt Sung-Hi Kim. Etwa 90 000 Euro koste das Gerät, doch es zahle sich aus.
Die virtuelle Testfahrt der Besucherin hat zahlreiche Schaulustige angelockt. Im Vergleich zu vorherigen Testfahrerinnen und -fahrer halte sie erstaunlich lange durch, sagt Sung-Hi Kim. Doch eine falsche Bewegung reicht schon aus, die Besucherin verliert die Kontrolle über das Fahrzeug. Die Fahrt endet in den Büschen. Was ein schwerer Unfall in der realen Welt wäre, ist in der virtuellen Welt zum Glück nur eine lehrreiche Erfahrung.