Live-Ticker zum Nachlesen:Von purem Glück und tiefem Schmerz

Die Münchner Politiker erleben einen emotionalen Abend der Sonderklasse. Die Gefühle jagen sich im Minutentakt. Den kleinen Parteien geht es gut, und die großen versuchen, Haltung zu bewahren

17.38 Uhr, Bellevue di Monaco: Auch im Münchner Integrationsprojekt "Bellevue di Monaco" gab es eine Wahl, eine eigene. Hier durften in den vergangenen zehn Tagen Menschen ihr Kreuz machen, die sonst nicht wählen dürfen. Die Wahlurnen sind hier bereits geschlossen, die erste Prognose liegt vor. Die Union kommt auf 35 Prozent der Stimmen, die SPD auf 28 Prozent, die Grünen auf 25 Prozent. Mit der echten Bundestagswahl hat das nur wenig gemein. Das wird der Abend zeigen.

17.39 Uhr, Schlachthof: Das ahnt auch Christian Ude, Münchens Alt-Oberbürgermeister, als er bei der Wahlparty der SPD auftaucht. Er schüttelt Hände, spricht dem einen oder anderen Mut zu. Was die bundesweiten Ergebnisse angehe, sei er auf "das Schlimmste vorbereitet , sagt er. Für den Münchner Norden aber, da sei er zuversichtlich - neben ihm steht der Kandidat Florian Post.

17.58 Uhr, Kreisverwaltungsreferat (KVR): Der grüne Bundestagskandidat Peter Heilrath ist schon da, wartet in der Eingangshalle auf die erste Ergebnisse. Die ersten Prognosen seien "gruselig" - wegen des hohen Anteils der AfD, sagt Heilrath. Im KVR beobachten traditionell zahlreiche Kandidaten und Politiker die Auszählung der Stimmen. Einen Zeitvorsprung gibt es in Zeiten des Internets in der Wahlzentrale aber nicht mehr. Der Andrang hält sich dementsprechend in Grenzen.

18.18 Uhr, Hofbräukeller: Die Stimmung bei der FDP ist bestens, die größte Sorge war zunächst, dass das Freibier ausgehen könnte. Vorne warten die Leute zu lange darauf. "Die freien Demokraten sind zurück", brüllt der sichtlich erleichterte bayerische Spitzenkandidat Daniel Föst ins Mikrofon. Es gebe nun wieder eine "mutige Mitte, die keinen Bock hat auf Weiter-so". Zum Schluss, als er seiner Frau dankt, versagt ihm die Stimme.

18.35 Uhr, Schlachthof: Bei der SPD sind viele zwar nicht überrascht, aber doch enttäuscht. Eigentlich hatte er mit 25 Prozent gerechnet, sagt zum Beispiel Gerhard Brümmer. Was seine Partei falsch gemacht habe? Der 58-Jährige zuckt mit den Schultern, vielleicht die Abgrenzung zur Union, aber eigentlich sei der Wahlkampf gut gelaufen. Schlimmer als das Ergebnis der SPD finde er allerdings das Ergebnis der AfD, das ist von vielen hier zu hören im Schlachthof. "Das macht schon Angst."

18.37 Uhr, Schlachthof: Jetzt ist auch Oberbürgermeister Dieter Reiter da. "Niederschmetternd" sei das Ergebnis, sagt er, "ein schwarzer Tag für die Sozialdemokraten". Man habe keine Ausreden mehr, auf die Wahlbeteiligung könne man die Niederlage diesmal nicht schieben, die sei ja hoch gewesen - die SPD aber sei nicht zu den Leuten durchgedrungen, sagt Reiter, nicht mit ihren Themen, nicht mit ihren Kandidaten. Er hoffe nun auf eine Jamaika-Koalition, für seine Partei gebe es keinen anderen Weg als: "Raus aus der Regierung."

18.40 Uhr, Augustinerkeller: "Ich habe schon mit Abschwung gerechnet", aber nicht in dem Ausmaß, sagt der CSU-Direktkandidat von München-Nord, Bernhard Loos, im Augustinerkeller. "Dass die demokratischen Parteien so niedersausen, ist erschreckend."

18.43 Uhr, Grundschule Türkenstraße: Der bayerische AfD-Chef Petr Bystron ist zur "Wahlbeobachtung" in seinem Wahllokal. Der Auszählung beizuwohnen, ist Recht jeden Bürgers. Die Rechtspopulisten haben ihre Leute dazu aufgerufen, weil ihrer Ansicht nach ein "großer Betrug" drohe. Bystron steht neben einem Schultisch, vor der Tafel, während die eifrigen Wahlhelfer sortieren, Stapel bilden. Er schaut ganz streng. Bei den ersten Prognosen hatte er noch gelächelt und vor Journalisten über "die Quittung für die Altparteien" gesprochen. Lang werde er nicht mehr beobachten, heißt es. Die Parteifreunde in München wollen später doch noch feiern.

18.49 Uhr, Ampere: Als Claudia Roth das Ampere betritt, brandet Applaus auf. Sie ist ja hier auch bei den Ihren, den bayerischen Grünen. Die Spitzenkandidatin sagt: "Heute Abend wird deutlich, dass wir Grünen unverzichtbar sind." Ihre Partei sei das Gegenmodell der AfD und auch der CSU. "Lasst uns das Gesicht sein und die starke Stimme des Grundgesetzes", sagt sie unter Applaus. Kurz darauf kommen neue Zahlen: 10,8 Prozent für die Grünen in Bayern.

18.55 Uhr, KVR: "Das deckt sich mit den Erfahrungen, die ich seit zwei Jahren an den Infoständen mache", sagt CSU-Rathausfraktionschef Manuel Pretzl über das schlechte Abschneiden - nicht nur der Union, sondern auch der SPD. Ganz offenkundig seien die Bürger mit der Politik von Angela Merkel nicht einverstanden. Pretzl denkt, dass die Union vor allem beim Thema Flüchtlinge meilenweit von dem entfernt sei, was die Wähler beschäftigt. Man habe gedacht, von oben herab vorgeben zu müssen, was für das Land am besten sei.

18.58 Uhr, Ampere: Vor der Tür des Ampere diskutieren Grünen-Mitglieder längst das Ergebnis. "Sollen wir denn jetzt in eine Jamaika-Koalition?", fragt eine Frau. "Auf jeden Fall besser als die große Koalition", antwortet ein junger Mann. Die erste Anspannung ist längst dem Pragmatismus gewichen. "Ich denke, wir werden auf jeden Fall an einer Regierung beteiligt", sagt ein anderer Grüner, der im Regen unter einem Schirm steht und raucht.

19.04 Uhr, KVR: Nicole Gohlke kann ihr Glück angesichts der Prognosen kaum fassen. "Schon mehr als fünf Prozent wären unglaublich gewesen", sagt die Linke. Die Prognose insgesamt sei jedoch dramatisch. Die großen Parteien hätten die Menschen mit ihrem "Uns geht's gut" nicht verstanden. Die Stärke der AfD bremse auch den Jubel über das eigene Ergebnis. "Wir haben die richtigen Themen gesetzt, konnten aber den Rechten nicht Paroli bieten."

19.37 Uhr, Schlachthof: An den Bierbänken der SPD sind bereits wieder Plätze frei, immer mehr Menschen brechen auf. An einem Tisch sitzen zwei Studentinnen, die nicht glauben können, welche Ergebnisse sie da auf den Bildschirmen sehen. "Zum Kotzen", sagt Anna Sichlinger, 22. Am Wahlkampf der SPD aber habe es nicht gelegen, glaubt sie, die "Angstwähler" habe man eben nicht aufhalten können.

19.46 Uhr, Bellevue: Mittlerweile hat das "Wahlstudio" im Bellevue di Monaco die Stimmen der Münchner ausgezählt, die offiziell nicht wählen dürfen, aber an der Müllerstraße trotzdem einen Wahlzettel ankreuzen konnten: Demnach würde die Union auf 34,9 Prozent kommen, die SPD auf 17,5, die Grünen auf 30,2, die Linke auf 14,2 und die FDP auf nur 3,2 Prozent.

19.57 Uhr, Gärtnerplatz: Gegen 18 Uhr ist bei Facebook zu einer Anti-AfD-Demo am Gärtnerplatz aufgerufen worden. Vielleicht 100 bis 200 junge Linke und Autonome haben sich jetzt versammelt. Auflagen von der Polizei gibt es noch keine für die Spontandemo, die gerade am Gärtnerplatz startet. Außer der, dass sie bitte die rechte Fahrspur benutzen sollen. "Natürlich nehmen wir die linke", ruft die Sprecherin des antifaschistischen Bundes. Alles bleibt friedlich.

20.22 Uhr, Schlachthof: Etwa die Hälfte der Stimmen in München sind nun ausgezählt, gerade sieht es danach aus, als könnte die SPD nur drittstärkste Kraft werden, hinter der CSU, hinter den Grünen. OB Reiter führt das auf taktische Überlegungen der Wähler zurück, die eine große Koalition unbedingt vermeiden und die Grünen stärken wollten: "Ich bin mir sicher, dass bei der nächsten Kommunalwahl die SPD wieder deutlich vor den Grünen liegt." Zudem mache ihm Hoffnung, dass die AfD nach bisherigem Stand in München einstellig bleibe: "Ein sehr bescheidener Trost."

21.36 Uhr, Hofbräukeller: Hier wie überall auf den Partys lichten sich die Reihen. Bei der FDP hält der frühere Focus-Chef Helmut Markwort noch die Stellung. Zum Abschied tauschen einige Gäste Visitenkarten aus. Auch Lukas Köhler, Direktkandidat im Westen, drückt seinem Nebenmann ein Kärtchen in die Hand. "Mein LinkedIn-Profil ist aber besser gepflegt", sagt er dazu. Es wird von Nutzen sein. Köhler sitzt aller Voraussicht nach im neuen Bundestag.

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