Literaturprojekt im Netz:Autoren schwarz auf weiß

Zehn Seiten aus einem Roman, vorgelesen vom Autor selbst: Die Online-Lesebühne "Zehnseiten" präsentiert sich in den Kammerspielen.

Nina Berendonk

Soll noch einer sagen, das Internet sei der Tod des gedruckten Wortes - wobei das nichts war, über das sich Mario Thaler und Per Schönacher in jener langen Nacht im Sommer 2007 Gedanken gemacht haben. Die langjährigen Freunde, die von Berufs wegen gar nichts mit Literatur zu tun haben, hatten einfach etwas gegen die Leser-Kommentare, die bei Amazon zum Kauf von Büchern verführen sollen. Es müsse doch möglich sein, fanden sie, etwas über Autor und Buchinhalt zu erfahren, ohne sich dabei durch das zum Teil unqualifizierte Geplapper Übereifriger quälen zu müssen. Noch in derselben Nacht meldete Thaler, im Hauptberuf Musikproduzent - unter anderem für The Notwist - die Domain www.zehnseiten.de an.

Literaturprojekt im Netz: Screenshot von zehnseiten.de: Harriet Köhler liest aus "Ostersonntag": Kostenlos im Internet.

Screenshot von zehnseiten.de: Harriet Köhler liest aus "Ostersonntag": Kostenlos im Internet.

(Foto: Screenshot: zehnseiten.de)

Die ziemlich clevere Idee: In für jeden Internetnutzer zugänglichen Kurzfilmen von zehn bis 25 Minuten Dauer lesen Autoren zehn Seiten aus ihren Büchern vor - oder auch mal eine mehr oder weniger. Genug jedenfalls, um entscheiden zu können, ob einem Geschichte und Stil des Werkes zusagen, und - als schöner Nebeneffekt - auch genug, um sich einen Eindruck vom Verfasser der Zeilen und dessen Vorlesekünsten zu machen.

Das Ganze strikt werbefrei, in Schwarz-Weiß und immer am selben Tisch und Stuhl in Thalers Murnauer Tonstudio aufgezeichnet. Die nicht besonders hohen Produktionskosten zahlt der jeweilige Verlag, der dafür eine Verlinkung mit der Online-Lesebühne bekommt und so eine Menge Öffentlichkeit in der ja an sich eher buchfernen modernen Medienwelt dazu. Zehnseiten findet sich bei Facebook und wahrscheinlich auch bald auf Youtube; eine neue Anwendung bringt die Filmchen aufs iPhone - wenn die Leseprobe gefällt, kann man sich die Bücher auch gleich bestellen.

Die erste Vorleserin vor zwei Jahren war Harriet Köhler, die mit Thaler und Schönacher befreundet ist und damals gerade ihr Debüt "Ostersonntag" (Kiepenheuer & Witsch) herausgebracht hatte. "Danach hat der eine den nächsten mitgebracht", berichtet Anna Jung, die inzwischen gemeinsam mit Notwist-Manager Florian Steinleitner und dem Buchhändler Johannes Wörle an der Website mitarbeitet: Im darauffolgenden Herbst hatte man schon 25 Beiträge online und gute Resonanzen von den Verlagen, die ihre Autoren bald selbst zum Vorlesen vorschlugen. Heute sind es 71 Filme, jeden Montag kommt ein weiterer hinzu, wobei man mittlerweile genug Angebote für zwei hätte, wie Jung erzählt.

Die Buchhändlerin, die "Zehnseiten" wie der Rest der Truppe neben ihrem eigentlichen Beruf betreut, kam dazu, als sich Thaler und Akustiker Schönacher am Ende ihrer literarischen Bildung angekommen sahen: "Die ersten Male standen die Jungs vor ihrem Bücherregal und haben sich überlegt, was sie gerne gelesen haben."

Seitdem ist die in München lebende Österreicherin für die redaktionelle Auswahl der Bücher und Autoren zuständig, wobei sie sich schwer tut, feste Kriterien zu postulieren: "Keine Sachbücher, keine Selbst-Veröffentlicher - es muss einfach zum Rest passen."

Der erweist sich als gute Mischung fast aller anspruchsvoller Verlagshäuser, mit einem kleinen Überhang an jüngeren Autoren wie Benjamin Lebert, Björn Bicker oder Thomas von Steinaecker, aber eben nicht nur diese Jahrgänge. Rafik Schami liest unter anderem aus "Das Geheimnis des Kalligraphen" (Hanser), an diesem Montag ist Carl-Henning Wijkmark, Jahrgang 1932, mit einem Auszug aus "Nahende Nacht" (Matthes & Seitz) dazugekommen.

Der Schwede Wijkmark spricht Deutsch, doch haben die Zehnseiten-Macher im dritten Jahr ihres Unterfangens zum ersten Mal auch fremdsprachige Lesungen aufgenommen. Paul Beatty liest auf Englisch aus "Slumberland" (Blumenbar), andere Sprachen sollen dazukommen - "so lange es nicht Chinesisch ist". Es wird nicht mehr ausschließlich aus Romanen, sondern auch aus Kurzgeschichtenbänden, Krimis und Kurzprosa gelesen; bald sollen Lyrik-Hörproben dazukommen.

Auch das Lese-Mobiliar könnte sich nach kurzen Ausflügen nach Wien und Berlin alsbald dauerhaft aus Murnau wegbewegen. Um sich die Autofahrt an den Staffelsee zu sparen, soll das Aufnahmestudio demnächst nach München umziehen. Hier präsentiert sich die virtuelle Lesebühne heute Abend zur Abwechslung einmal auf einer echten Bühne (Kammerspiele, Neues Haus, Beginn: 20 Uhr). Neben Blumenbar-Autor Alexander Schimmelbusch, David Schalko und Thomas Meinecke als DJ ist Zehnseiten-Pionierin Harriet Köhler zu Gast: Sie liest aus ihrem noch nicht erschienenen Buch "Und dann diese Stille" (Kiepenheuer & Witsch).

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