Ausstellung:Abgründe im Aquarium

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Ein Seepferdchen gibt dem Jungen am Ende der Geschichte "Wenn ich groß bin, werde ich Seehund" den Gute-Nacht-Kuss. (Foto: Nikolaus Heidelbach/Beltz & Gelberg 2011)

Schön und schrecklich schräg zugleich: Die fantastischen Bilderwelten von Nikolaus Heidelbach im Literaturhaus.

Von Barbara Hordych, München

Niedlichkeit sucht man in den Bildern von Nikolaus Heidelbach, 66, vergeblich. "Kulleraugen und ein Grinsemund, das ist nicht meine Sicht auf Kinder", sagt der Kölner Künstler bei einer Besichtigung der neuen, ihm gewidmeten Ausstellung im Literaturhaus. Wer die betritt, befindet sich in einer Art Aquarium, das von fantastischem Meeresgetier, farbenfrohen Fabelwesen und doppelbödigen Kinder-Darstellungen bevölkert ist. Letztere sind eher abgründig als idyllisch und süß.

"Andere Illustratoren mögen bei Kinder-Darstellungen 80 Prozent weglassen; ich nehme aber den gesamten Menschen in den Blick, und da habe ich zwischen Kindern schon Szenen beobachtet, in denen sich Emotionen, neben Zärtlichkeit eben auch Brutalität, ungehemmt Bahn brechen". Eine Beobachtung aus seinen Berliner Jahren, in denen er zwischen 1978 und 1983 seine Studenten-Existenz als Babysitter finanzierte, war da wegweisend. Er hat sie in seinem frühen Buch "Der Ball " festgehalten: "Da war ein Kind im Sandkasten von dem Neid eines anderen auf seinen Ball so genervt, dass es ihm schließlich eine scheuerte", erinnert sich Heidelbach. Späterhin waren es seine eigenen beiden Kinder, heute sind es die beiden Enkel, die seinen Blick für die kindliche Erlebniswelten und Individualität schärfen.

Er zählt zu den eigenwilligsten Illustratoren Deutschlands

Einflüsse aus dem Surrealismus, den Werken von George Grosz oder Fernando Botero, lassen sich in Heidelbachs Illustrationen ausmachen. In seinem "Selbstporträt" bricht etwa ein Wesen mit Krakenarmen und vielen Augen durch die Tapete. "Wenn man so will, kann man hier Inspirationen von Hieronymus Bosch entdecken", sagt Heidelbach. Er deutet auf eine kleine, beinahe nackte Frauen-Figur, die auf einem Rüsseltier herbei reitet. "Die große Hure Babylon aus der Offenbarung des Johannes ist bei mir hier allerdings sehr winzig", sagt Heidelbach und schmunzelt.

Sich selbst hat er am Schreibtisch sitzend gemalt, gebeugt über ein leeres, weißes Blatt. Auf der Stuhllehne nähert sich ihm ein schwarzes Insekt, das seinen Stachel nach ihm ausgestreckt hat. "Vielleicht sticht es gleich zu - und weckt mich damit auf, verhilft mir zu einer Idee?". Schön-schreckliche Fantasien eines Künstlers, der zu den eigenwilligsten Illustratoren Deutschlands zählt, ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Joachim-Ringelnatz-Preis der Kategorie "Kunst".

Warten auf den Stich der Inspiration: Nikolaus Heidelbachs "Selbstporträt". (Foto: Catherina Hess)

"Sehen Sie dieses Radieschen dort?". Heidelbach deutet auf die rote Kugel mit staksigen Beinen am Boden seines Selbstporträts. Es beziehe sich auf die Entdeckung seinerzeit in seiner Berliner Wohnung, in der ein Radieschen aus dem Mülleimer verschwand und plötzlich in einer Toilettenschüssel wieder auftauchte. Obwohl die Wohnung im dritten Stock lag, gab es dort wohl eine Ratte, wie ein herbeigerufener Rattenfänger feststellte. Vorsichtshalber lag in den folgenden Wochen ein schweres Telefonbuch neben der Toilettenschüssel. Auf die Idee, aus dieser Geschichte ein Kinderbuch mit dem Titel "Warum Alfred auf dem Klo ein Telefonbuch las" zu machen, verzichtete er dann später aber doch.

251 mit Wasserfarben, Deckweiß und Buntstiften gemalte Originalblätter haben Anna Seethaler und das Team vom Gestaltungsbüro "unodue{ münchen" in Rahmen und - zu ganzen Büchern wie "Rosalie träumt" oder "Alles gut?" - in Vitrinen zusammengestellt. Die Illustrationen aus dem Buch "Wenn ich groß bin, werde ich Seehund", ziehen sich sogar über die komplette Fensterfront. Am Beginn sitzt eine Mutter mit ihrem Sohn am Tisch und erzählt ihm eine Geschichte, die auf den irisch-schottischen Mythen um Frauen beruht, die eigentlich Seehunde sind (und am Schluss ihre Familien verlassen). Ganze Unterwasser-Bildwelten schwimmen den Betrachtern beim Betrachten regelrecht entgegen; Die Seewesen haben menschliche Gesichter, oder der Wal trägt auf seinem Rücken einen Königspalast. Bis am Ende ein Seepferdchen dem Jungen, der nun im Bett liegt, einen Gute-Nacht-Kuss gibt. "Man könnte sagen: Ganz schön viel Aufwand für einen Gute-Nacht-Kuss. Aber für mich ist eine Geschichte immer erst dann zu Ende erzählt, wenn ich alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe", sagt Heidelbach.

Nikolaus Heidelbach nimmt beim Beobachten "den gesamten Menschen in den Blick" - auch wenn es sich um Kinder handelt. (Foto: Max Groenert)

Das jüngst erschienene Buch "Marina" berühre wieder seine eigene Biografie, sagt Heidelbach. Er sei mit mehreren, auch älteren Brüdern aufgewachsen. Ein Brüderpaar ist es denn auch, das eines Tages am Strand einem fremden (Flüchtlings-)Mädchen begegnet, das sie mit zu sich nach Hause nehmen. Ihre Eltern seien der Meereskönig und die Meereskönigin und sie die Prinzessin, erzählt Marina stolz den Brüdern und deren Mutter. Und malt ihr Unterwasserleben in fantastischen Bildern aus: von einem Schloss mit Muschelschneckentürmen, Fahrten in einem Garnelenboot und Spielen mit Meermädchen schwärmt sie ihnen vor.

Märchenwelt auf dem Meeeresboden: Das Königspaar in "Marina" schwebt in einem Garnelenboot zum Schloss. (Foto: Nikolaus Heidelbach/Beltz und Gelberg 2022)

Warum sie überhaupt aus ihrer Unterwasserwelt weggelaufen sei, will der ältere Bruder skeptisch wissen. Weil sie Streit mit ihren Schwestern gehabt habe, sagt das Mädchen. Was für den jüngeren Bruder, der ihren Erzählungen glaubt, plausibel ist. Woraufhin ihn der ältere Bruder zurechtweist: Deshalb werde er hoffentlich nicht eines Tages selbst weglaufen und ins Meer gehen! Wer Heidelbach und seine Gedankenwelten in der Ausstellung durchwandert hat, denkt sich: Wer weiß, vielleicht doch.

Nikolaus Heidelbach, "Originale", bis 31. Juli, Literaturhaus München , www.literaturhaus-muenchen.de

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