Literaturfest:Geschichten neu erzählen

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Twitter oder Buch? Die Entscheidung von Schriftsteller Abbas Khider fällt bei der Eröffnung des Literaturfests München eindeutig aus. (Foto: Catherina Hess)

Beim Eröffnungsabend des Literaturfests München 2021 im Gasteig geht es nicht nur um Bücher, sondern auch um die stärkenden Möglichkeiten des Internets.

Von Antje Weber, München

"Ändert sich nichts, ändert sich alles", behauptet ein quietschgelbes Buch mit rotem Ausrufezeichen in der Bücherschau im Gasteig. "Du bist stärker als dein Schmerz", verspricht ein Titel ein Regal weiter, doch die "Theorie der überforderten Gesellschaft" liegt nicht fern. Man ist in diesen Tagen ja geneigt, die Bedeutung solcher Aussagen auf das eine, beherrschende Thema zu verengen. Auch wenig später, als die Musiker Maximilian Höcherl und Maruan Sakas das Literaturfest im Carl-Orff-Saal mit den Zeilen eröffnen: "Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe/ so müd geworden, daß er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt."

Das ist natürlich "kein Corona-Lied", wie Literaturfest-Chefin Tanja Graf sogleich klarstellt, sondern eine Vertonung von Rilkes berühmtem "Panther"-Gedicht. Und eine Welt, in der sich etwas rührt, gibt es auch noch - auch wenn die "Bedingungen etwas herausfordernder sind als sonst", auch wenn der übliche Branchen-Empfang nach der Eröffnung leider abgesagt ist. Und auch wenn Stadtrat David Süß in Vertretung von Oberbürgermeister Dieter Reiter das aus bekannten Gründen nicht sehr zahlreich erschienene Publikum wenig festlich auf Absagen und Kontaktbeschränkungen einstimmt, will er diesen Abend, dieses Literaturfest doch auch als "Zeichen der kulturellen Selbstbehauptung und Widerstandskraft" verstehen, als "ermutigende, stärkende Erzählung".

Genau darum wird es im Weiteren gehen, nach einem "Werbeblock" für die Literaturstadt München durch Kulturreferent Anton Biebl, der sich überdies als Modebotschafter betätigt: Man kann eine orange leuchtende FFP2-Maske während einer Rede auch elegant zum Einstecktüchlein umdeuten. Dass sich die Welt ändert, nicht nur in dieser Hinsicht, erklärt anschließend die Psychologin und Publizistin Marina Weisband, per Stream zugeschaltet, in einem eindrucksvollen Kurzvortrag. Wir Menschen seien noch nie faktenbasiert, sondern an "Geschichten orientiert" gewesen, sagt sie. Und die Literatur sei wichtiger denn je, "sie zeigt uns erst unsere Handlungsoptionen auf".

Die Publizistin Marina Weisband fordert eine "zweite Welle der Aufklärung"

Allerdings ändern sich die Medien: Nicht nur für Weisband ist inzwischen der Computer das Fenster zur Welt; sie fühlt sich mit Twitter als Arbeitsmedium wohler als mit Büchern, liebt "das Fluide" des Internets. Sie wirbt für Memes und Tiktok-Videos als eigene, neue Erzählformen - diese seien keine Bedrohung, sondern eine Einladung an alle: "Öffne dich!" Wichtig im Umgang mit dem Internet, das in guter wie schlechter Hinsicht als "der große Verstärker" wirke, sei nun allerdings, "kulturelle Arbeit" zu leisten: "Wir brauchen eine zweite Welle der Aufklärung, in der wir alle Pädagogen füreinander sind", sagt Weisband, selbst viel an Schulen unterwegs. Man könne sich "als Konsument begreifen oder als Gestalter" - wir alle hätten jedenfalls "eine Pflicht, uns gegenseitig zu ermächtigen".

Darüber spricht Moderatorin Marie Schoess im Anschluss in einer interessanten, allerdings etwas ausfransenden Diskussion mit Weisband sowie BR-Intendantin Katja Wildermuth und Oekom-Verleger Jacob Radloff. Alle sind sich weitgehend einig darin, dass man neue Formen des Dialogs mit Hörern und Lesern finden, Brücken zwischen unterschiedlichen Akteuren bauen müsse. Denn es gehe darum, "resilient mit dem Unvorhergesehenen umgehen zu können", wie Wildermuth sagt. Auch Radloff bekräftigt, man müsse die Menschen darin stärken, "mit der Unsicherheit zu leben". Wichtig ist dabei, wie Weisband ergänzt, "transparent zu sein im eigenen Lernprozess" und auch mal zuzugeben: "Ich habe auch keine Ahnung."

Dass das Digitale unsere Welt jedoch noch nicht ganz dominiert, macht der Schriftsteller Abbas Khider anschließend deutlich: Er outet sich als "Facebook-, Twitter- und Instagram-Verweigerer"; nach wie vor hält er gern ein Buch in der Hand und tritt dadurch "in Beziehung mit der Geschichte der Menschheit". Khider stellt dann seinen Roman "Der Erinnerungsfälscher" vor, der im Januar erscheinen wird. Er liest eine Passage, die insbesondere von rassistisch agierenden Polizisten in München handelt. Das mag auf den ersten Blick nicht zum vorherigen Thema passen, auf den zweiten vielleicht schon: Zum einen ist die Erfolgsgeschichte dieses vor Jahrzehnten aus dem Irak geflohenen Autors die einer Selbstermächtigung par excellence. Zum anderen mag sich zwar fast alles ändern, doch eines wird immer gleich bleiben: das Bedürfnis, einander Geschichten zu erzählen, um diese verunsichernde Welt besser zu verstehen.

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