Süddeutsche Zeitung

Literatur:Rückkehr der Blumenkinder

"Liebe machen" heißt der neue Roman von Moses Wolff. Darin blühen die Siebzigerjahre wieder auf, und der Münchner Allrounder feiert eine Romanze, die enorm viel Zeit zum Wachsen braucht

Von Thomas Becker

Einen Roman "Liebe machen" nennen, und die Liebenden in spe sich erst auf Seite 108 begegnen lassen, und das auch nur für ein paar wortlose Sekunden - geht so was? Der erste Kuss: ein Jahr und 40 Seiten später. Diesmal dauert die Begegnung immerhin fast ein paar Minuten, endet aber ebenso abrupt, jedoch immerhin mit einem halben Wortwechsel: "Nächstes Jahr um dieselbe Zeit!"

Puh, ganz schön viel Cliffhängerei für solch einen insinuierenden Titel. Und was ist dann 365 Tage später? Genau: wieder nix. Sie lebt mittlerweile in Brooklyn, er in Blankenese, und vergessen hat er das Date auch noch. Ist das nicht ganz schön frech, den Leser erst über eine so lange Strecke angaloppieren zu lassen, um ihm dann das nächste Hindernis vors Schienbein zu hauen? Klar ist das frech, und damit zum Autor: Moses Wolff. Dass einer wie der multipel kunstbegabte Wolff nicht einfach eine moderne Version der zwei Königskinder aufschreibt, ist für jeden klar, der das Schaffen des Frühfünfzigers schon eine Weile verfolgt.

Der Tausendsassa inszeniert eigene Theaterstücke (meist im Hofspielhaus, als künstlerischer Berater und Stellvertreter von Christiane Brammer), macht Musik (frisch auf iTunes: sein Song "Augenblicklich Depression"), ist Mit-Gründer der sonntäglich im Vereinsheim stattfindenden "Schwabinger Schaumschläger Show" (die sich nach 13 Jahren nonstop eine Zwangspause verordnen musste), hat als in der Isarvorstadt lebender gebürtiger Pasinger den Schwabinger Kunstpreis bekommen (was man auch erst mal schaffen muss), er schauspielert von Polizeiruf über München 7 bis Dahoam is dahoam, spielt Solo-Kabarett (und sagt darin "Ich hab' Talente - die möchte ich auskosten! Kann man denn nicht alles gleichzeitig sein?") - und er schreibt, für Titanic und die AZ, über die Wiesn, aber auch Romane: über den "Wildbach Toni" und den "Schrippen-Blues", eine Krimi-Trilogie über den in München ermittelnden westfälischen Detektiv Hans Josef Strauß - eine Namenskreation, auf die er auch nach Jahren noch unbändig stolz ist.

Nun also "Liebe machen" (kürzlich erschienen bei Piper), was keine körperliche Tätigkeit beschreibt, sondern den Geist der Zeit, in der der Großteil des Plots spielt: in den vom Hippie-Slogan "Make Love, Not War" geprägten Siebzigern. Der Plot geht so: Eine junge Frau aus Köln und ein junger Mann aus Hamburg begegnen sich 1970 voller Faszination auf dem Oktoberfest, finden aber durch diverse Umstände nie zueinander. Stets denken sie an jene schillernde Begegnung zurück. Beide führen unterschiedliche Leben, beiden fehlt die Liebe des anderen. Zum 50. Jahrestag entschließen sie sich, inzwischen 70 Jahre alt, im Herbst 2020 wieder an den Ort ihrer ersten Begegnung zurückzureisen, ohne voneinander zu wissen. Zu all den Liebeswirren hat Wolff noch "ein wenig historisches Spezialwissen einfließen lassen", wie er sagt. So recherchiert die Protagonistin, dass in Michael Jacksons letzten Jahren oft ein Doppelgänger zu sehen war sowie weitere sorgsam ausgebreitete Schoten von Rio Reiser bis Jimi Hendrix.

Aufgeschrieben ist das alles in einer angenehm ungekünstelten Sprache, die zuweilen ins Pathetische lappt: "Die Zeit stand still. Tränen schossen ihnen in die Augen ... Die Erde hörte für den Bruchteil einer Sekunde auf, sich zu drehen." Oder: "Ihre Augen waren grün wie das Moos auf der Mauer seines Elternhauses. Es gab nur noch ihn und diese unglaubliche Energie, die zwischen ihnen floss. Mit jedem Atemzug strömte Glück durch ihren Körper." Aber hey: Es geht schließlich um Liebe.

Was die Schreibe von Wolff sicher hat: Herz. Der Kollege Friedrich Ani wusste das schon vor "Liebe machen": "Er schaut den Leuten nicht nur beinhart aufs Maul, sondern auch ins Maul hinein bis hinunter ins Herz und in den Bauch." Schon sind wir wieder bei den Liebenden: Auf Seite 285 treffen sich erneut ihre Blicke - und eine halbe Seite später ist der Roman zu Ende.

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Quelle:
SZ vom 11.08.2020
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