Literatur:Ende offen

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Große Bühne für kleine Geschichten: die vier Finalisten, eine Moderatorin, der Veranstalter, zwei Juroren und die Vorleserin in der Alten Kongresshalle in München. (Foto: Otger Holleschek)

Großer Andrang beim Finale des "Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs 2022" in der Alten Kongresshalle München.

Von Michael Zirnstein

Man regt sich schnell mal auf. Zum Beispiel als Spätkommer beim Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerb, weil in der Alten Kongresshalle längst alle Stühle mit Menschen, Schals oder Namenszetteln belegt sind. Während des "Reise nach Jerusalem"-Spiels sagt sich der Gast angesichts der Organisation also "Was soll das?" und outet sich damit als Vertreter der Grönemeyer-Generation. Junge Menschen würden das "Was für ... !" ausrufen. Zumindest hat Otger Holleschek diesen Empörungs-Ausdruck oft bei seinem Sohn gehört und ihn daher als Motto seines 28. Literatur-Contests vorgegeben: Erlaubt waren also Geschichten, in denen sich irgendwer über irgendwas aufregt. Damit das aber nur für die Texte gilt, nicht für seine Lese-Show, schiebt Holleschek persönlich noch zwei Dutzend Stühle in den Saal. "Stehen geht nicht bei 15-minütigen Texten", sagt er. Er weiß freilich, dass es nicht bei vier mal 15 Minuten Lesezeit bleiben wird, auch kurze Geschichten wollen ihre Weile haben. Und es kommen noch Musik, Moderation, Pausen, Stimmauszählung und so weiter dazu: Am Ende wird man nach vier Stunden die beiden Sieger mit den letzten Resten Wein an der Bar feiern.

Männer dienen hier als Witz- oder Hassfiguren

Als er noch Zeremonienmeister der hippsten Partys in München war, feierte Holleschek hier in der hölzernen Retrokiste mal mit 3000 Gästen. Seit sich der Germanist mehr auf seine Leidenschaft konzentriert, nämlich literarische Entdeckungen, ist er schon von weit weniger überwältigt: Mit dem überraschenden Andrang an der Abendkasse kommen am Ende mehr als 400 Gäste zu seiner bisher größten Final-Lesung. Eine Genugtuung. Weil Holleschek vorher wackelte. Der Zuschuss von der Stadt kam nicht, dann doch. Die Teilnahme war mit 600 Einsendungen enorm, aber geringer als in Rekordjahren. Das Konzept war neu: Nicht mehr jede Geschichte wie bei den "Menülesungen" früher von einem Starkoch mit einem jeweiligen Gang interpretieren lassen, sondern nur in der großen Pause zwei Gerichte aus großen Töpfen schöpfen: Die Kurzgeschichten selbst, für Holleschek die "Stiefkinder der Literatur", sollten die Stars des Abends sein.

Jesper Munk, Münchens Songwriter-Jungstar in Berlin, interpretiert die folgenden Texte an Gitarre oder Keyboard fein mit jeweils einem seiner Lieder, dann liest Mascha Müller (war mal Luise Prinzessin von Waldensteyck in "Verbotene Liebe", inszeniert 2023 ein eigenes Theaterstück in München). In einer Blind Audition also sollte nur die Stimme des Textes zählen bei einer Art "The Authors Voice of Germany". Die Jury (mit dem Autor Helmut Krausser) hatte vier Frauen-Figuren ins Rennen geschickt, die sich gar nicht mehr über die Welt aufregen, sondern einfach nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen: Eine taucht im Schwimmbad ab, eine sperrt sich im Zugabteil weg, eine schwebt im Penthouse über der Welt, eine lauscht an der Wand und holt sich Party-Streuner ins Bett. Männer dienen hier meist als Witz- oder Hassfiguren. Wie "Matze-TSG", der Vera in "3000 Meter" immer wieder beim Bahnenschwimmen in die Quere kommt, oder ihr Arzt, der - "Krebs, was für'n Scheiß!" - rät: "Sehen Sie's doch mal positiv." Erst mal Luftanhalten im Gedankenstrudel - zum Sieg reicht es für die Autorin Heike Schwarze aber nicht. Auch nicht für Lisa-Viktoria Niederberger, deren von einer muslimischen Influencerin inspirierter Text "Und Zohreh schreit" den darin stattfindenden Weltuntergang aus Hochhaus-Perspektive ebenso wenig spürbar werden lässt wie die der Autorin so wichtige "spontane Verschwesterung von zwei Frauen".

Das Publikum liebt "Warmes Fleisch" und spricht Caecilie Trotha dafür 2000 Euro zu - abzusehen, denn die humorvolle wie tieftraurige Zug-Geschichte fährt 270-Euro-Yoga-Abo gegen "christlichen Scheiß" auf - wenn ein Mettwurst-Jesus eine Veganerin lehrt, um ihren toten Metzger-Vater zu trauern, rattert viel im Kopf. Die Jury-Vertreter des Abends, Alexander Mey und Katrin Bleuer, sprechen ihren Preis und 500 Euro "ganz eindeutig" Torsten N. Siche für "Bei Kerbers nebenan" zu: Die vom täglichen Geschrei der ihr sonst unbekannten Nachbarn faszinierte Lauscherin an der Wand soll drüben auf einmal Pflanzen sitten, die sie dann in der Wohnung aber gar nicht vorfindet: Eine Falle? Ein Hilferuf? Die Antwort wird man, wie in guten Kurzgeschichten üblich, nie erfahren. Open End - so wie beim Kurzgeschichten-Wettbewerb, dessen Zukunft für Otger Holleschek trotz des Erfolgs weiter wackelt.

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