Literatur:In der Mitte statt am Rand

Wie fühlt sich Obdachlosigkeit an? Der Münchner Autor Markus Ostermair beschreibt in seinem Debütroman "Der Sandler" die Menschen hinter den Klischees - und Orte von Sankt Bonifaz bis zur Bahnhofsmission

Von Antje Weber

Selbst eine Narbe kann ihr Gutes haben. Bei Karl zieht sie sich über Gesicht und Hals, seit er von einem Unbekannten auf der Straße mit einem Weizenglas angegriffen wurde. Immerhin ist er jetzt als "Barometer-Karl" bekannt, als der Wetterfühlige, der jeden Umschwung früher spürt als andere. Das bringt Karl ab und zu einen Schluck Schnaps ein oder eine Zigarette. Vor allem aber ein bisschen Aufmerksamkeit, das ist das Wichtigste: "Gebraucht zu werden kann einem über den Tag helfen, jahrelang."

Und es ist wahrlich nicht leicht für einen Obdachlosen, einigermaßen durch die Tage zu kommen. In seinem Roman "Der Sandler" (Osburg Verlag) beschreibt Markus Ostermair den Alltag von Karl so: "Trinken, essen, schlafen. Und hoffentlich ein Stuhlgang während der Öffnungszeiten", also während der Essensausgabe in Sankt Bonifaz in der Münchner Innenstadt. "Es ist die ewige Wiederkehr des Gleichen", ergänzt der Autor im Gespräch. "Jeder Tag ist gleich, es wechseln nur die Jahreszeiten. Das macht es sehr archaisch."

Markus Ostermair kennt sich aus mit dem Thema. Seit er 1999 als Zivildienstleistender in der Münchner Bahnhofsmission gearbeitet und anschließend ehrenamtlich Nachtschichten geschoben hat, beschäftigt ihn das Thema Obdachlosigkeit. Daran, es in einem Roman zu verarbeiten, dachte er zunächst nicht. Er sei in der Nähe von Pfaffenhofen an der Ilm in einer Familie aufgewachsen, in der Literatur keine Rolle gespielt habe, sagt der Enddreißiger. Erst nach dem Zivildienst hat er sein Abitur an einer Berufsoberschule gemacht, "Lust am Lesen" entwickelt und dann Germanistik und Anglistik auf Lehramt studiert. An der LMU las er eines Tages einen Aufruf von "Manuskriptum", dem Vorläufer der Bayerischen Akademie des Schreibens. Da gärte schon länger in ihm, dass Obdachlose "als Figuren in der Literatur nie vorkommen. Warum eigentlich nicht?"

Mit Stein beschwerter, verwitterter Zettel mit Aufschrift ich bin obdachlos, bitte um 10 Cent an der Schlafstätte eines

Acht Jahre hat Markus Ostermair an seinem Roman geschrieben, der den Alltag von Obdachlosen schildert.

(Foto: Imago Images/Ralph Peters)

Er schrieb eine Szene, wurde im Kurs angenommen, und das Projekt "wuchs langsam an". Insgesamt hat Ostermair an die acht Jahre an seinen Debütroman hingeschrieben. "Das ist schon eine relativ lange Zeit", gibt er zu. "Es ist aber auch ein relativ dickes Debüt!" Denn ihm war wichtig, das nun 370 Seiten zählende Buch "panoramaartig" anzulegen. Karl ist zwar eindeutig die Hauptfigur, eingeschoben werden aber auch andere Perspektiven, zum Beispiel einer Bettlerin, einer Sozialarbeiterin, eines Tankwarts. Das kann man als Stärke oder Schwäche des Romans sehen, Ostermair war es jedenfalls wichtig, nicht nur eine Figur als "Muster-Obdachlosen" zu beschreiben. Es handele sich eben nicht um eine homogene Gruppe; jeder habe seine Eigenheiten, und sei es nur in der Art, wie er selbstbewusst oder zögerlich einen Raum betrete: "Da stecken die Geschichten drin!"

Inwiefern stecken damit auch reale Vorbilder hinter den Figuren? Es sei eine Mischung, sagt der Autor, "ich habe einfach viel beobachtet". Auch wenn er sich gerade bei äußerlichen Eindrücken an der Realität orientiert habe, seien die Geschichten hinter den Menschen doch ausgedacht: "Es ist sehr viel Fiktion, wenn es in die Tiefe geht." Wichtig war Ostermair vor allem, dass es "wahrhaftig" ist. Und dass Menschen wie Karl aus der Innenperspektive geschildert werden: Floskeln wie "sie leben am Rand der Gesellschaft" wollte der Autor umdrehen und die Obdachlosen diesmal "zum Mittelpunkt des Romans machen".

Das ist ihm wirklich gut gelungen, wie auch bereits ein Literaturstipendium der Stadt München 2015 und ein Residenzstipendium auf Schloss Wiepersdorf bekräftigten. Ostermair hat einen schönen, passend wirkenden Tonfall gefunden, um insbesondere Karls Wanderungen durch München zu schildern: unsentimental und empathisch zugleich, mit Mut zum unangenehmen, auch mal ekelhaften Detail. Dazu gehören die Ausdünstungen von vielen ungewaschenen Menschen in einem Saal, dazu gehört so manche Gewalterfahrung auf der Straße. "Das geht noch krasser", sagt Ostermair, er habe sich noch zurückgehalten. Doch der Roman lebt ohnehin eher von den vermeintlich unspektakulären Momenten eines Alltags auf der Straße: Wenn im Schaufenster eines Ladens plötzlich das Licht aus- und angeht, um den störenden Penner wegzuscheuchen. Wenn in der U-Bahn alle sehr viel Platz machen: "Schau, man drängt sich für dich bis in den Gang hinein."

Markus Ostermair

Markus Ostermair lebt als Schriftsteller, Übersetzer und Sprachlehrer in München.

(Foto: Fabian Frinzel)

Es ist ein Alltag, der manchmal viele Jahre so andauert und nicht nur im Winter anstrengend ist. Ostermair lässt seinen Roman im Sommer spielen; auch hochsommerliche Temperaturen seien ja "kein Zuckerschlecken" für die Menschen, sagt er, Dehydrierung und Hitzschlag nicht selten. Eine der größten Überraschungen aber war für Ostermair die Stille. Denn am meisten hat ihn in seiner Zeit in der Bahnhofsmission beschäftigt, dass die Obdachlosen oft "stundenlang nebeneinander saßen, ohne miteinander zu reden". Wenn man darüber nachdenke, sei das nicht so verwunderlich: "Wie würde es uns gehen, wenn die Gesprächseröffnung ,Und was machst du so?' wegfällt?"

Die Frage, wie man selbst reagieren würde, stellt Ostermair immer wieder, sie ist ein Antrieb seines Projekts. Er kann sich gut in die Lage von Menschen hineinversetzen, die nicht abgesichert leben. Er selbst hat mehrere kleine Jobs, arbeitet als Lehrer für Englisch und Deutsch als Fremdsprache in der Erwachsenenbildung, übersetzt, schreibt Auftragstexte. Außerdem ist er ehrenamtlich im Kafe Kult in Oberföhring tätig, wo corona-bedingt derzeit jedoch nichts laufe. Und er macht deutlich: Er selbst könnte "nicht mehr in München wohnen", wenn seine Frau nicht den Hauptteil des Geldes verdienen würde.

Abstiegsängste sind dem Autor wie vielen freiberuflichen Kulturschaffenden also nicht fremd. Und man merkt, dass er in den Jahren des Schreibens viel über unsere Gesellschaft nachgedacht hat, in der ein andauernder Konkurrenzkampf herrsche. "Eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz aufgebaut ist, erzeugt aber notwendigerweise Verlierer." Deren Scheitern werde zum Beispiel mit Faulheit erklärt, also individualisiert: "Es wird nicht gesehen, dass das auch systembedingt ist." Allein schon den Kampf um bezahlbaren Wohnraum zu verlieren, könne Mietern jederzeit passieren. Wenn dann noch ein Problem dazu komme, eine gescheiterte Beziehung etwa, könne jemand schon abrutschen. Auch wenn sein Roman mit einem Traum endet, ist Markus Ostermair illusionslos: "Das Thema wird nicht an Aktualität verlieren."

Lesung von Markus Ostermair: Dienstag, 13. Oktober, 19 Uhr, Monacensia, Maria-Theresia-Str. 23, Forum Atelier (Reservierung erforderlich: monacensia.programm@muenchen.de) und Livestream

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