Süddeutsche Zeitung

Literatur:Freiheit hinter Mauern

Warum Nonnen die ungarische Lyrik-Performerin Kinga Tóth faszinieren

Von Antje Weber

"Fürchte dich nicht! Glaube nur!" Diese Sätze findet man auf der Webseite der "Blauen Schwestern von der heiligen Elisabeth" in München. Und man sieht auf einem Foto eine Nonne des Ordens, die allein auf einem Platz steht und kräftig in eine Trompete bläst, darunter der Text: "Kreatives aus dem Leben mit Covid 19".

Die ungarische Lyrikerin und Performerin Kinga Tóth ist hingerissen von Nonnen wie diesen, ja von den künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen von Nonnen überhaupt. Die Blauen Schwestern hat sie für ihr Projekt "Mariamachina" aus Pandemie-Gründen zwar nicht treffen können, doch sie haben Mails, Briefe und Texte ausgetauscht. Auch Gebetsbücher hat Tóth im Mai und Juni in München und Feldafing gesammelt, Kerzen sowieso. Jetzt brauche sie noch ein paar Rosenkränze und andere heilige Objekte, erzählt sie bei einem Video-Interview; später wird sie Fotos von gerade erworbenen Engel-Amuletten und -Armbändern schicken. Die will sie zum Klingen bringen, bei einem Lesungs- und Performance-Abend, der von 22. Juni an als Video-Stream auf der Homepage des Lyrik Kabinetts abrufbar ist.

Kinga Tóth, die aus mehr als 60 Bewerbungen ausgewählte erste Stipendiatin einer Lyrik Residency von Villa Waldberta und Lyrik Kabinett, sammelt solche Objekte schon lange. Sie hält ein Messglöckchen in die Kamera: "Das ist aus Rom!" Auf früheren Videos von ihr im Netz sieht man Madonnen, die sich zum Sound von Gebeten und Liedern drehen; auch solche Lieder sammelt Tóth seit Jahren. Diesmal will sie außerdem die Grundrisse von Klöstern oder Kirchen mit den Konturen von Heilpflanzen überlagern, schließlich seien Nonnen oft "wundervolle Gärtnerinnen" und übrigens auch gut im Recyceln, sagt sie. Das Ergebnis, ein "work in progress", soll jedenfalls Text, Sound und Grafik vereinen - und auf seine Weise ähnlich "heilend" wirken wie die Arbeit vieler Nonnen.

Kinga Tóth interessiert sich aus vielen Gründen für Nonnen - aber nicht aus religiösen. Neben Kunst und Können, neben den "Ritualen des Alltags" beeindruckt sie vor allem "das freie Denken unter dem Mantel eines -ismus", sei es nun der Katholizismus oder der Protestantismus. Sehr oft finde sie "richtig freies Denken" hinter diesem Mantel, sagt sie; viele Nonnen in der Geschichte seien lesbisch gewesen oder hätten geradezu erotische Beziehungen zu Jesus gelebt. Überhaupt gebe es "supercoole Nonnen, richtige Anarchistinnen - ich finde sie manchmal wie Punks".

Freiheit, die man hinter Mauern findet, das passe gut in die Corona-Zeit, sagt Tóth. Und es passt auch sehr gut zu einem Land wie Ungarn. Wenn sie über ihr Geburtsland spricht, wirkt die sonst so lebendige, sprühende Performerin am Bildschirm auf einmal geradezu verschattet. Seit zehn Jahren lebt die 1983 in Sárvár geborene Künstlerin weitgehend im Ausland, führt mit Hilfe vieler Stipendien einen "Vagabond-Lifestyle". Immer wieder engagiert sie sich zwar für und in Ungarn, "aber ich kann da nicht leben". Die Pandemie zwang sie jetzt für eine längere Zeit zurück in die Heimat. Das Feldafinger Stipendium fühlte sich daher für sie wie "eine Rettung" an - in Deutschland "frei sein zu können", frei und in Ruhe zu arbeiten, bedeutet ihr viel.

Jemand wie Kinga Tóth, die zuletzt in Ungarn mit Kolleginnen die erste Organisation für gleiche Rechte und Repräsentation von Frauen in der Literatur gegründet hat, die in diesem Sommer an einem Kunstprojekt mit Kindern aus Syrien und Palästina mitwirken will, hat es unter Viktor Orbáns repressiver Regierung nicht leicht. Wenn Tóth von den aktuellen Entwicklungen erzählt, spürt man ihre Fassungslosigkeit darüber, dass Homosexuelle durch ein neues Gesetz künftig mit Pädophilen in einen Topf geworfen, LGBT-Inhalte nicht mehr für Jugendliche unter 18 freigegeben werden: "Kein George-Michael-Song mehr für Jugendliche!" Dürften die künftig nicht einmal mehr die Nationalhymne singen, die von einem homosexuellen Verfasser stamme? "Es ist so surreal", sagt sie.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Nonnen-Kunstprojekt eine weitere Dimension. Wie denkt und lebt man Freiheit unter Mänteln, hinter Mauern? "Es gibt Kunst und freies Denken in Ungarn", sagt Tóth. Vielleicht müsse man die Mäntel einfach länger ziehen, vielleicht auch davon wegkommen, Leben wie die der Nonnen immer mit Leiden gleichzusetzen. "War es ein Verzicht für sie oder der einzig mögliche Weg?", fragt sie sich, und: "Wie kann man sich befreien in solchen Situationen?" Sie denkt nicht nur an Künstler in Ungarn, sondern auch an Poetinnen in Belarus, in Myanmar: "Wir müssen unsere Freiheit irgendwie finden."

Kinga Tóth: Mariamachina, Dienstag, 22. Juni, 19 Uhr, Youtube-Video-Stream über Lyrik Kabinett

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Quelle:
SZ vom 22.06.2021
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