Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: München erlesen:Wahnmoching, wie es gärte

Nicht nur als "Skandalgräfin" ist Franziska zu Reventlow 150 Jahre nach ihrer Geburt immer noch präsent - als ironiebegabte Schriftstellerin hat sie die Schwabinger Bohème in Werken wie "Herrn Dames Aufzeichnungen" verewigt

Von Antje Weber

Es war ein rauschendes Fest; wohl eines der exzessivsten, die je in München stattgefunden haben - "als wir zu früher Morgenstunde das gastliche Haus verließen, waren auch meine Empfindungen bis zu einem Zustand inneren Taumels gesteigert, der noch heute nicht ganz erloschen ist". Der da so anhaltend taumelte, war angeblich ein gewisser Herr Dame, dessen Notizen in Franziska zu Reventlows Buch "Herrn Dames Aufzeichnungen" mündeten. Zweifelsfrei hat es jedenfalls die beschriebene Party gegeben: Das Antikenfest mit illustren Gästen ging am 22. Februar 1903 in der Wohnung des Schriftstellers Karl Wolfskehl in der Leopoldstraße über die sorgfältig bereitete Bühne.

Dass dieses Faschingsfest - zu den Details später mehr - noch heute bis in die letzte Verkleidung präsent ist, verdankt die Nachwelt der spitzen Feder zu Reventlows. Die am 18. Mai vor genau 150 Jahren geborene sogenannte "Skandalgräfin" lebte, liebte und litt im Mittelpunkt der Schwabinger Bohème der Jahrhundertwende, mit wenig Geld und umso mehr Lebenslust - "ich bin nur glücklich, wenn jeden Abend ein Fest ist", sagt im Buch eines ihrer beiden Alter Egos Maria und Susanna. Heute wird zu Reventlow manchmal auf ihre gewiss bedeutende Rolle als unerhört frei lebende Frau in eher unfreien Zeiten reduziert; bei den Frauenrechtlerinnen, die damals zeitgleich in München den Kampf gegen das Patriarchat aufnahmen, wollte sie sich allerdings nicht einreihen: Sie bewunderte eher das Hetärentum.

Über den vielen Anekdoten, die über "die Reventlow" kursieren, sollte man nicht vergessen, dass sie eine überaus geistreiche, ironiebegabte Schriftstellerin war, die zahlreiche Werke veröffentlichte: von den Romanen "Ellen Olestjerne" oder "Der Geldkomplex" bis zum kurz vor ihrem Tod 1918 veröffentlichten Novellenband "Das Logierhaus zur Schwankenden Weltkugel". Als ihr Hauptwerk jedoch und Schlüsselroman über die Schwabinger Bohème gilt der Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen", 1913 im Albert Langen Verlag erschienen. Der darin als Bacchus beschriebene Fest-Gastgeber Wolfskehl, zu dieser Zeit übrigens einer von Reventlows Liebhabern, schrieb noch Jahrzehnte später, ihr Roman bleibe die beste Quelle "für Stimmung und Luft der Epoche".

Die Autorin schiebt dabei alle Verantwortung erzählerisch elegant auf den erwähnten "Herrn Dame" ab: Der habe seine Aufzeichnungen über "recht eigentümliche Menschen, Begebnisse und Anschauungen" bei einer Seereise an neue Bekannte übergeben und sei kurz darauf tödlich verunglückt, heißt es im Prolog. Der Ich-Erzähler ist also praktischerweise tot, alle Nachfragen erübrigen sich. Noch in weiterer Hinsicht ist er eine bestens geeignete Figur, um sich dem Phänomen Schwabing, hier "Wahnmoching" genannt, anzunähern: Der naive junge Mann fühlt sich nicht nur durch seinen Namen Herr Dame, sondern auch durch "das Matte, Neutrale" seines Naturells verurteilt. Da er sich aber wie viele andere junge Leute "gärenshalber" in München aufhält, gerät er mehr und mehr in die irrlichternden Kreise der Bohème, in der um die Jahrhundertwende seltsame Weltanschauungen wabern.

Herr Dame versteht am Anfang überhaupt nicht, wo er da hineingeraten ist. Wahnmoching, lässt er sich erklären, sei "eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen". Wenn den Wahnmochingern dabei etwas überzeugend erscheint, kommentieren sie das mit dem Superlativ "enorm". Gerne parlieren sie beim Tee über "Satansmessen, Orgien, Magie und Heidentum", danach tanzt man.

Reventlow spielt damit auf den Kreis der Kosmiker um Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Alfred Schuler an, dem sich auch der Dichter Stefan George verbunden fühlte. In Wahnmoching lehne man den Individualismus ab, lässt sich Herr Dame von einem Philosophen dazu erklären, wichtiger seien die "Ursubstanzen" im Menschen, die "Rassesubstanzen", römische, germanische, semitische. Wo von "Blutleuchte" gefaselt wird und Arier das "aufbauende, kosmische Prinzip" repräsentieren, "die Semiten dagegen das zersetzende, negativ-molochitische" - da wird es nicht nur den Lesern äußerst mulmig, sondern offensichtlich auch der Autorin: In Wahnmoching werde "jede Vernunft und Klarheit in den Bann getan", lässt sie den Philosophen schließen: "Und das erlaube ich mir für bedenklich zu halten."

Im Roman wird denn auch das baldige Ende solcher Kulte eingeläutet. Auf dem letzten großen Fest bei Karl Wolfskehl jedoch kommen alle noch einmal zusammen: "Der Meister" alias Stefan George erscheint als Cäsar mit weißer Toga und Kranz um die Stirn. Alfred Schuler kommt als "römische Matrone", und Ludwig Klages gibt den indischen Dionysos - das rauschhaft Dionysische, nach dem damals hochverehrten Nietzsche, fasziniert die Wahmochinger sowieso enorm. Das Fest beginnt mit einem Umzug samt weihevollem Gesang, dann löst es sich in einer "allgemeinen Ekstase" auf - "alles begann zu tanzen, zu drehen, in einem rasenden Tempo herumzuwirbeln". Es endet in einem "tobenden Chaos", bei dem Maria alias Franziska zu Reventlow "in einem animierten Moment" auf die saudumme Idee kommt, am "ungeheuren goldenen Stab" des Dionysos emporzuklettern: Der Stab bricht in der Mitte durch. Schade, kommentiert Herr Dame maliziös, "aber in diesem Moment versagte sein heidnisches Empfinden, und er wurde ärgerlich".

All das muss auf matte Menschen natürlich verstörend wirken. Heutige Leser können zudem kaum alle Anspielungen verstehen, jeden Namen entschlüsseln. Das ist aber letztlich nicht wichtig, wie bereits Herr Dame erkannte. "Anfangs sehnte ich mich nur nach Klarheit, nach Verstehen und Begreifen" aller Rätsel Wahnmochings, schreibt er. Am Ende weiß er, dass es eher darum geht, die "intensiv bewegte Atmosphäre" dieses Stadtteils innerlich zu erleben. Oder zu erträumen. Oder, so sei hinzugefügt, zu erlesen: Es ist enorm.

Franziska zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen, Marix Verlag 2014 (antiquarisch), 192 Seiten. Aus Anlass des Geburtstags außerdem neu auf www.literaturportal-bayern.de: ein Schwabing-Spaziergang auf den Spuren zu Reventlows

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SZ vom 18.05.2021/van
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