Literatur:Doppeltes Glück

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Ulrike Draesner hat jüngst den Bayerischen Buchpreis für ihren Roman "Schwitters" erhalten - und einen kleinen Goldsplitter vom Nobelpreis.

Interview von Antje Weber

Kunst brauchte Überschuss und Witz", heißt es einmal im Roman "Schwitters" (Penguin) von Ulrike Draesner. Dieser Satz bezieht sich auf die Hauptfigur, den Künstler und Dada-Lyriker Kurt Schwitters - doch auch der Roman selbst nähert sich ihm auf originelle Weise. Die gebürtige Münchnerin, die in Berlin und Leipzig lebt, hat dafür kürzlich den Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Belletristik erhalten. Die für ihre Romane wie auch die Lyrik vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, die auch am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig unterrichtet, durfte sich in diesem Jahr jedoch noch in anderer Hinsicht geehrt fühlen.

SZ: Dieses Jahr ist zweifellos ein schwieriges - doch Ihnen hat es offensichtlich auch Glück gebracht?

Ulrike Draesner: Ja, das kann man wohl so sagen. Mein Buch "Schwitters" ist gut angekommen, dazu kam der Bayerische Buchpreis, eine große Freude. Und als Übersetzerin von Louise Glück wurde ein kleiner Goldsplitter des Nobelpreises an meine Stirn geklebt, zumindest was den Medienrummel angeht. Insofern: Trotz aller Einschränkungen und Sorgen, die dieses Jahr ja für uns alle mit sich gebracht hat, war es ein sehr schönes, gerade jetzt im Herbst.

Konnten Sie überhaupt ein bisschen feiern? Die Buchpreis-Diskussion etwa haben Sie laut Ihrer Dankesrede ja wohl mit Verlagsleuten in Berlin verbracht?

Nun ja, wir hatten nur einen gemeinsamen Zoom-Raum, ich saß ganz allein im Zimmer. Das war ein vollkommen mediales Ereignis. Und als ich dann angerufen wurde, dass ich den Preis bekommen habe, war die Verbindung nicht stabil, ich habe fast nichts gehört. Es war das seltsamste Danke, das ich je aussprach, in ein rauschendes Nichts hinein. Schon merkwürdig: Die Dinge finden auf diese Weise zwar statt, aber sie wirken nicht ganz real.

Sie betonten in diesen Dankesworten, wie wichtig Ihnen dieser bayerische Preis sei - wie eng ist für Sie als Münchnerin, die sozusagen freiwillig nach Berlin emigriert ist, noch die Verbindung?

Meine gesamte Familie lebt noch in München. Das sind Prägungen, die nimmt man mit. Der Bayerische Buchpreis verbindet mich zurück mit meiner Kindheit und meinem Aufwachsen - und mit einem Raum, in dem ich mich regelmäßig aufhalte.

Mitglied der Berliner Akademie der Künste Ulrike Draesner lebt als Lyrikerin Romanautorin und Ess

Ulrike Draesner lebt als Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin in Berlin.

(Foto: Berliner Akademie der Künste/ Imago)

In Ihrem Roman "Schwitters" geht es auch um das Fortgehen, allerdings um das unfreiwillige Exil. Das Thema beschäftigt Sie ja schon lange?

Ich bin in Bayern ja in einer gemischten Familie aufgewachsen: Die Familie meiner Mutter stammt aus Bayern, meine Mutter wuchs in Andechs auf - und meine Vaterfamilie kam aus Schlesien, als Flüchtlinge. Diese Spaltung zog sich durch meine gesamte Kindheit und Jugend: die einen katholisch, die anderen Protestanten, bäuerlicher oder städtischer Hintergrund, unterschiedliche Dialekte, Lieder, Gerichte. Die Geschichte meiner Vaterfamilie, mit Zwangsvertreibung und Flucht, hat mein Aufwachsen wesentlich geprägt. Heute würde man sagen, dass meine Großeltern und mein Vater traumatisiert waren. Die Auswirkungen waren überall zu spüren.

All das haben Sie in Ihrem vorherigen Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" aufgearbeitet ...

Ich habe dabei sehr viel gelernt über intergenerationelle Weitergabe von emotionalen Strukturen, von Belastungen ebenso wie von Resilienz. Ich arbeite an einer Trilogie zum Thema Exil und Vertreibung, die "Sieben Sprünge" sind der erste Teil, "Schwitters" ist der zweite. Im ersten Buch geht es um eine mitteleuropäische Geschichte mit einer polnischen und einer deutschen Familie. Bei "Schwitters" führt uns die Fluchtbewegung aus Hannover über Norwegen nach England - mit der Besonderheit, dass ein Künstler ins Exil geht.

Was zu unterschiedlichen Fragen führt ...

Ja, eine solche Trilogie ist dann interessant, wenn die Mittel und thematischen Zentren wechseln. Bei "Schwitters" geht es um ein Individuum, das zunächst eine ungespaltene Identität hat. Kurt Schwitters ist in seinen Fünfzigern, mitten in der Arbeit, alles läuft gut - und dann kommen die Nationalsozialisten, politische Maßnahmen, und innerhalb kürzester Zeit ist sein ganzes Leben vernichtet. Er muss ins Exil, ein Schicksalsschlag folgt dem nächsten. Diesem Mann wird über zwölf Jahre lang immer mehr von seiner Identität genommen, bei Gefahr für Leib und Leben. Es ging mir um die Frage, wie jemand versucht, sich noch mal eine ganz neue Identität aufzubauen. Wenn eine Vase zerbricht, versucht man die Stücke zu kitten. Doch die Bruchstellen bleiben sichtbar, und an einigen Stellen fehlt etwas. Schwitters kam nie mehr zur Ruhe. Ich habe an seinem Beispiel erst wirklich verstanden, was es heißt, Flüchtling zu sein und ständig auf Abruf zu leben. Man hat Schlimmes durchgemacht, kein Geld, kämpft mit der Sprache. Das gilt auch für Geflüchtete heute.

Dazu geht es im Fall "Schwitters" natürlich um die Frage nach der Kunst.

Ich bin in England auf ihn gestoßen und war auch im Lake District, wo er in einem Stall seinen letzten Merzbau angefangen hat. Das Kunstwerk ist nicht mehr dort, doch man hat es nachgebaut, und im Vorraum hing ein Foto: Man sah einen Kran, an dem die Merzbauwand hing - die erst niemand haben wollte und die nur auf private Initiative hin vor dem Verrotten bewahrt wurde. Da glaubten Menschen an die Wichtigkeit von Kunst, an ihre geistige Freiheit und erkannten das als ein entscheidendes soziales Gut. Schwitters hat exakt dafür in seiner Exilkunst gekämpft. Mit diesem Bild vom Überleben von etwas Verfolgtem begann der Roman für mich. Sozusagen von hinten, also mit seinem Ende: Denn diese Rettung war der Fluchtpunkt, in jedem Sinn des Wortes.

Literatur: Der Dada-Künstler Kurt Schwitters.

Der Dada-Künstler Kurt Schwitters.

(Foto: Wikipedia)

Sie nehmen sich im Roman selbst viel Freiheit - und haben ihn erst auf Englisch geschrieben, dann ins Deutsche übersetzt?

Die Trilogie ist nicht nur inhaltlich gedacht, ich rüttele darin auch an den Grundsätzen des Romanschreibens. Im ersten Roman ist das ein Medienwechsel: Der siebte Sprung findet im Netz statt. "Schwitters" hat kein Original - oder zwei Originale. Es war schon lange ein Wunsch von mir, einmal die Schreibsprache zu wechseln, um zu sehen, was dann passiert. Und es war klar, dass der Roman, der auch im Englischen voller Wortspiele ist, nicht übersetzt werden kann, sondern auf Deutsch neu erfunden werden musste. Auch die Form veränderte sich.

Wie stark sich ein Sprachwechsel auswirkt, wird im Roman immer wieder deutlich - wenn Schwitters irgendwann nur noch "vermutungsdeutsch" schreibt, im Englischen seinen Witz verliert ...

Humor ist in jeder Kultur anders definiert. Die Engländer fanden Schwitters nicht komisch. Sein Schreiben starb ab, dafür war auch sein Englisch nicht gut genug. Da ging es ihm wie vielen anderen Exilautorinnen und -autoren. Mich hat vor allem seine immense Lebenskraft beeindruckt. Dieses starke, innere, erfinderische Feuer, mit dem er die Kunst weitertreibt. Seinen Witz und Humor hat er sich als Person bewahrt - auch in England, hungrig, krank und wirklich arm.

Sie schildern Schwitters aber auch als Mann mit vielen Schwächen. Er ging zum Beispiel oft fremd, erduldet von seiner empathisch gezeichneten Ehefrau Helma.

Mich hat diese Frau sehr berührt, sie war die größte Überraschung der Recherche. Ihre Briefe sind unglaublich beredt, die ist witzig, warmherzig. Sie hat aber eine schwierige Mutter an ihrer Seite, eine Anhängerin der Nationalsozialisten: Frauen sind minderwertig, Töchter dazu da, zu dienen... Dieses Gift ist bei Helma noch sehr direkt angekommen. Sie hätte ein immenses Potenzial gehabt, blieb aber eingebunden in die traditionellen Familienrollen. Dieses patriarchale System sah auch vor, dass er seine Seitensprünge haben darf und sie nicht. Das ist natürlich ein großer Freiraum, den er sich genommen hat und der für sie nie zur Verfügung gestanden hätte.

Die Bedingungen eines Frauenlebens sind heute meist leichter, doch immer noch anders als bei Männern - wie bewerten Sie die Reaktionen auf den Nobelpreis an Louise Glück?

Ich finde, dass sie in ihrer Rede zum Nobelpreis dazu etwas Entscheidendes gesagt hat. Sie meint, dass mit ihrer Poesie eine intime, private Stimme ausgezeichnet worden sei, die den Dialog mit dem einzelnen Leser sucht. Glück ist eine Autorin, die ein Leben lang nicht in die heute so wichtigen medialen Formate gepasst hat. Dass sie auch sehr scheu auf diesen Nobelpreis reagiert hat, sich treu bleibt, ist eine schöne Leistung. Unter diesem Aspekt finde ich diese Wahl auch besonders intelligent. Eine ältere Frau mit einem lyrischen Werk auszuzeichnen, die nicht in die Medienlandschaft passt, auch das ist eine politische Aussage - davon abgesehen, dass ihre Gedichte wichtig und schön sind.

Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück

Auch die diesjährige Literatur-Nobelpreisträgerin Louise Glück befasst sich in ihren Gedichten mit Schwitters.

(Foto: Daniel Ebersole/dpa)

Pikant war, dass die Rechte an Glücks Gedichtbänden bei der Nobelpreis-Bekanntgabe nicht mehr beim deutschen Verlag lagen, es gab also keine Bücher auf Deutsch - da wurde es wahrscheinlich sofort hektisch hinter den Kulissen?

Es gab eine Menge Strippenziehen, ich habe noch einmal viel über den Literaturbetrieb gelernt. Was die beiden von mir 2007 und 2008 übersetzten Gedichtbände angeht: Die Rechte an den englischen Texten waren inzwischen an die Agentur von Louise Glück zurückgefallen. Ich hatte nicht bemerkt, dass die Bände vergriffen waren und meine Rechte nicht zurückverlangt. Als jetzt die Rechte wieder neu verkauft wurden, ging das an mir vorbei. Ich persönlich habe also an Glücks neuem Ruhm nichts verdient. Doch er freut mich sehr. Nach der Bekanntgabe habe ich die Übersetzungen drei Wochen lang ohne Honorar überarbeitet, um der Sache willen.

Und nun? Sie haben sich mal als "Sitzmensch" bezeichnet - woran sitzen Sie?

Ich saß schon als Kind gern. Meine Mutter fand das ungesund, ich fand es schön. Lesen im Laufen ist auch nicht gesund. Im Herbst nächsten Jahres kommt ein neuer Gedichtband heraus. Und ich arbeite am dritten Band der Trilogie. Es geht darin nur um Frauen, um die Auswirkungen von Gewalt, vor allem Vergewaltigungen am Ende des Krieges - und um die Weitergabe dieses Erlebens in die Töchter- und Enkelinnen-Generation. Und: Ich werde diesmal einen Teil der Autorschaft an eine Zeichnerin abgeben. Dann wird man auch sehen, wie alle drei Teile einen Aspekt der Gattung Roman angehen. Die ist so großartig, weil sie so weit ist und immer neu verändert sein will. Unsere Lebensbedingungen verändern sich ebenfalls ständig, und es juckt mich in den Fingern, neue Konzepte des Erzählens zu erproben.

Und so ernst die Themen sind, es steckt damit auch etwas Spielerisches dahinter?

Das muss auch sein, das hält man ja sonst nicht aus. Ich bin eine große Bewunderin Shakespeares. Bei ihm sieht man in jedem Stück: Es gibt keine Tragik ohne Komik. Ich erzähle meine Geschichten mit einer Portion anarchischer Heiterkeit. Es geht um die Kraft des Witzes, des Erfindens - um die Kraft einer Umkehrung.

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